aktuelles.archiv-grundeinkommen.de
Inhalt des Buches
Befreiung von falscher Arbeit
Thesen zum garantierten Mindesteinkommen
Herausgegeben von Thomas Schmid
Zweite, erheblich veränderte Auflage
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
6. - 8. Tausend 1986
ISBN 3 8031 2109 4
Ralf Dahrendorf
Manchmal scheint es in der praktischen Politik nützlich,
sich mit dem Teufel zu verbünden. Man kann das Richtige - das, was man für
richtig hält - nur erreichen in der Koalition mit anderen, die dasselbe, wenn
auch aus falschen Gründen, wollen. Die Bildungsreform der sechziger Jahre war
ein Beispiel. Das Argument von der »deutschen Bildungskatastrophe« war von
Anfang an falsch. Es unterstellte eine Beziehung zwischen Bildungsexpansion und
Wirtschaftswachstum, für die es keinerlei Gründe gab. Nur mit Hilfe von
sogenannten spurious correlations, von statistischen Scheinbeziehungen,
konnte man der Behauptung eine gewisse Eindringlichkeit verleihen, daß der
nächste Schritt des Wirtschaftswachstums die Erhöhung der Abiturientenzahl
verlangt. Gewiß gab es Länder, die sowohl mehr Hochschüler als auch höhere
Wachstumsraten hatten; aber zwischen beiden bestand dennoch kein Zusammenhang.
Nur ließ die statistische Scheinbeziehung Politiker aufhorchen, während das
Argument, daß Bildung Bürgerrecht ist, ihnen allenfalls Feierabendbekenntnisse
ablockte. Ohne Zweifel haben die falschen Gründe die Expansion der sechziger
und siebziger Jahre bewegt.
Wer aber Bündnisse mit dem Teufel schließt, zahlt dafür
einen hohen Preis. Zwar mag die oberflächliche Allianz von
Bürgerrechtsreformern und Wachstumsreformern Landtage zu erheblichen
Ausgabensteigerungen für die weiterführende Bildung bewegt haben; aber sie hat
auch zur falschen Art von Reform geführt und am Ende zur Schwächung des
Erreichten. Die Art der Reform war falsch, weil sie die Bildungsinstitutionen
(um mit Christopher Jencks zu sprechen) als »Fabrik« behandelt hat. Blinde
Expansion sollte sich unmittelbar in einem neuen Wachstumsschub niederschlagen.
Dabei blieb manches von dem auf der Strecke, was den Charme von Schulen und
Hochschulen ausmacht, auch manches von ihrer Qualität. Außerdem erwies sich die
wirtschaftliche Hoffnung als verfehlt. So mußte fast notwendig die
Desillusionierung folgen. Nun, da sie stattfindet, haben die
Bildungsinstitutionen außer in den handfest Interessierten gar keine
Fürsprecher mehr.
Das auf schwankendem Boden errichtete neue Gebäude gerät
ins Rutschen.
Das Beispiel ist nicht zufällig gewählt. Die Forderung eines
garantierten Mindesteinkommens ist von großer, beinahe strategischer Bedeutung
in der Politik der achtziger Jahre. Aber auch bei ihr ist vor falschen
Argumenten und damit vor falschen Bündnissen zu warnen. Das gilt vor allem für
zwei Kategorien von Systemveränderern, die, wie alle ihresgleichen, am Ende das
Bestehen nur stabilisieren werden.
Die erste dieser Kategorien hat als ihr Ziel die
Entkopplung von Arbeit und Einkommen. Das ist ein großes, wichtiges Thema. In
der Tat hat ja die Erwerbsarbeit längst jene zentrale Stellung im Leben der
meisten Menschen verloren, die die Rede von der Arbeitsgesellschaft
rechtfertigte. Aus gutem Grund liegt etwas Schrilles in der
unternehmerisch-gewerkschaftlichen Forderung, die Bedeutung der Erwerbsarbeit
nur ja nicht geringzuschätzen. Das liegt quer zu den Entwicklungen eines
Jahrhunderts, in dem im Namen der Erleichterung der Arbeit, auch der Befreiung
von (»falscher«) Arbeit, das »Reich der Freiheit“ ständig ausgeweitet worden
ist. Wir stehen möglicherweise an der Schwelle zu einer Gesellschaft, in der
Erwerbsarbeit gegenüber Formen der freien Tätigkeit zurücktritt, in diesem
Sinne am Ende der Arbeitsgesellschaft und am Beginn von so etwas wie der
Tätigkeitsgesellschaft. Aber nur sehr privilegierte Gruppen - zum Beispiel
mittelständische Jungakademiker mit Beamtenrechten - können aus dieser Tendenz
so weitreichende Folgerungen ziehen wie sie zuweilen erörtert werden, also etwa
behaupten, die Zeit sei gekommen, Arbeit und Einkommen grundsätzlich zu
entkoppeln. Weniger Privilegierte wissen, daß Beruf und Erwerbsarbeit in
mehrfacher Hinsicht unentbehrliche Elemente des sozialen Lebens geblieben sind:
- Es ist uns noch kein anderer Weg eingefallen, um die
Wohlfahrtschancen einer entwickelten Gesellschaft und ihre (notwendige?)
Differenzierung zu gewährleisten als der über Arbeitseinkommen. Das gilt
übrigens noch für die Umverteilungselemente der Wohlfahrt, also die
Lohnnebenkosten und den Sozialstaat.
- Es ist uns auch noch keine andere Basis für das
Selbstbild und Selbstbewußtsein von Menschen eingefallen als die
Berufsposition. Nicht zufällig wird noch die Emanzipation von Frauen an ihr
festgemacht. Und wo es Ansätze zu anderen Pflöcken für das Selbstbild gibt -
etwa sportliche Leistungen oder Errungenschaften der Freizeittätigkeit - haben
diese meist eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Arbeit.
- Es ist uns vor allem noch nicht gelungen, andere
Prinzipien für die Strukturierung des Zeithaushalts von Menschen zu finden als
die der Erwerbsarbeit. Wenn der Fixpunkt der Berufsarbeit fehlt, wissen
Menschen oft nicht, woran sie ihren Tages-, Wochen-, Jahresplan festmachen ,
sollen (am Fernsehprogramm?).
Das sind harte Tatsachen. Wer sie nicht zur Kenntnis
nimmt, hebt vom Boden der Wirklichkeit ab, und seine oder ihre Vorschläge
geraten damit ins Schweben, also in die Unverbindlichkeit. Das muß man gerade
dann feststellen, wenn man selbst ein Befürworter des Weges von der Arbeits-
zur Tätigkeitsgesellschaft ist. Man sollte dieses zentrale Thema nicht durch
seine Vermischung mit dem des Mindesteinkommens schwächen.
Welche Argumentation ist dann angemessen? Einen
Zusammenhang mit der Entwicklung der Arbeit gibt es durchaus. Arbeit im Sinne
von bezahlter Erwerbsarbeit ist in bestimmtem Sinne knapp geworden. Ihre
Reduktion für Einzelne bedeutet, daß diejenigen, die Arbeit - und damit
Einkommen, Anrechte, Selbstachtung, Lebenshilfe - haben, an ihr festhalten,
auch wenn das heißt, daß nicht alle mehr Erwerbsarbeit finden. Dadurch setzt
ein Prozeß mit unabsehbaren Folgen ein. Eine Gesellschaft, die sich mühsam
Staatsbürgerrechte für alle erobert hat, fängt an, mehr und mehr Menschen aus
dem Genuß dieser Rechte herauszudefinieren, sie auszugrenzen. Die Gesellschaft
gleicher Staatsbürger wird zu einer Gesellschaft der Mehrheitsklasse der Dazugehörigen,
während eine Unterklasse der Nichtdazugehörigen vergebens an ihre Pforten
klopft. Die Folgen sind schwerwiegend, auch wenn sie nicht unmittelbar
erkennbar werden. Nicht daß die Unterklasse eine Revolution vorbereiten würde -
Unterklassen tun eben das bekanntlich nicht -, wohl aber fühlen ihre Mitglieder
sich verständlicherweise nicht an die geltenden Normen gebunden. Rechts- und
Sozialordnung unterliegen dem grundsätzlichen Zweifel, einem Zweifel überdies,
der sich von der Unterklasse hineinfrißt in die offizielle Gesellschaft der
Mehrheit. Das gilt um so stärker, je ausgeprägter die Grauzone zwischen
(Arbeit-)Besitzenden und Nicht-Besitzenden wird. Am Ende erscheint der
Grundvertrag der Gesellschaft selbst als bedroht.
Das ist ein sehr gedrängtes, fast flüchtiges Argument.
Doch gibt es einen Hinweis auf eine ganz andere Begründung für ein garantiertes
Mindesteinkommen. Das ist die Begründung durch Staatsbürgerrechte: wenn es
nicht zu den Grundrechten jedes Bürgers gehört, daß eine materielle Lebensgrundlage
garantiert wird, dann zerfällt die Staatsbürgergesellschaft. Anders gesagt, zur
Definition des gemeinsamen Fußbodens, auf dem alle stehen, ist in der Tat die
Entkopplung des Einkommens von der Arbeit nötig. Hier reicht weder die reine
Wohlfahrt noch die Wiederbelebung des Spruchs, daß wer nicht arbeitet auch
nicht essen soll. Es ist dies aber nicht mehr als eine notwendige Bedingung zur
Schaffung einer Gesellschaft, in der zu leben sich lohnt. Vieles weitere bleibt
zu tun, gerade auch im Hinblick auf die (Verteilung von) Arbeit. Das
garantierte Mindesteinkommen ist so notwendig wie die übrigen Bürgerrechte,
also die Gleichheit vor dem Gesetz oder das allgemeine, gleiche Wahlrecht.
Die Abkoppler
haben also etwas Richtiges erkannt, aber sie haben es von der notwendigen zur
zureichenden Bedingung der gerechten Gesellschaft gemacht und verraten damit
ihre besonderen Gruppenprivilegien. Das gilt auf andere Weise auch für eine
zweite Kategorie von Systemveränderern, die sich zu diesem Thema geäußert
haben. (Sie kommen in diesem Band leider nicht zu Wort.) Das sind die Ökonomen
etwa des Kronberger Kreises.
In ihrem Papier
über die »Bürgersteuern“ - und damit auch das »Bürgereinkommen« - haben diese
Ökonomen den Gedanken der negativen Einkommenssteuer aufgenommen. Sie wenden
sich gegen alle Subventionssysteme, die für je eigene Bereiche der öffentlichen
Tätigkeit eigene Ämter und Bürokratien schaffen. Mit Recht argumentieren sie,
daß diese Bürokratien oft teuer und immer wenig effizient sind. Am liebsten
würden sie an die Stelle aller Zwangsversicherungs-Körperschaften und
Umverteilungsämter nur eine einzige Behörde setzen, das Finanzamt. Dieses nimmt
oder gibt, aber beides in rein formal-administrativer Weise. Es reduziert also
die vielfältigen Bedürfnisskalen des Wohlfahrtsstaates und die ebenso
vielfältigen Instanzen, die diesen entsprechen, auf eine einzige Skala und
Instanz - ein attraktiver Gedanke, der die Erniedrigung der Bürger durch
Wohlfahrtsbürokratien beseitigen könnte und zugleich dabei helfen würde, den
Unsinn zu vermeiden, daß der Einzelne vom Staat das zurückbekommt, was er an
Steuern und Abgaben eingezahlt hat, minus die Reibungskosten für die Verwaltung
der Umverteilung.
Und doch ist auch
hier ein grundlegendes Fragezeichen am Platze. Es berührt ein Thema, das nicht
minder beladen und schwierig ist als das der Arbeit und ihrer Beziehung zum
Einkommen, nämlich die Ökonomisierung von Anrechten. Vielen
Auseinandersetzungen der gegenwärtigen Politik liegt ja eine unausgetragene
Auffassungsverschiedenheit zugrunde. Es gibt diejenigen, die meinen, daß am
Ende der »normale«, durch keinerlei »künstliches« Hindernis gehemmte
Allokationsprozeß der Volkswirtschaft alle Bedürfnisse und Erfordernisse
befriedigen kann. Sie setzen daher auf Wachstum. Wenn die Wirtschaft nur
hinlänglich wächst und der Arbeitsmarkt ohne Hemmnisse funktioniert, wird die
Arbeitslosigkeit ganz von selbst verschwinden. »Strukturelle« Fragen sind nur
Zeugnisse mißlicher Eingriffe in den an sich vollkommenen Prozeß des Marktes.
Es gibt aber auch diejenigen, die beharrlich argumentieren, daß Anrechte - zum
Beispiel auch jene Vertragsfreiheit, durch die der Markt à la Adam Smith erst
konstituiert wird - nicht von selbst aus dem Marktprozeß hervorgehen. Sie
verlangen eigene Entscheidungen, wenn man so will, konstitutionelle
Entscheidungen. Anrechte sind Elemente des Gesellschaftsvertrages, und das
garantierte Mindesteinkommen gehört zu diesen Anrechten.
Wer die negative Einkommenssteuer gänzlich
verselbständigt, oder genauer, wer ganz auf das Steuersystem als
Grenzbestimmung zwischen direktem und indirektem Einkommen setzt, öffnet der
Beseitigung aller Anrechtsgarantien Tür und Tor. Man könnte sogar
argumentieren, daß er durch eine Seitentür die Arbeitsgesellschaft in das
System wieder hineinschmuggelt, nämlich Menschen nur insoweit gelten läßt als
sie für das Steuersystem relevant sind. Es mag durchaus sein, ist sogar
wahrscheinlich, daß eine Form der negativen Einkommenssteuer eine angemessene
Garantie für das Mindesteinkommen liefert; aber es ist keine Sophisterei, zu
fordern, daß Staatsbürgerrechte zuerst definiert werden müssen und Methoden zu
ihrer Befriedigung danach.
Das alles ist nicht aus Vergnügen am Argument gesagt. Man könnte gewiß fragen, warum der Liberale zögert, wenn die Grünen und der Kronberger Kreis sich schon einmal einig sind. Wäre es nicht einfacher, das durch negative Einkommensteuer garantierte Mindesteinkommen erst einmal zu etablieren und dann weiterzusehen? Ich denke nicht. Wacklige Koalitionen führen auch zu Entscheidungen ohne Bestand. Am Ende würden die einen immerfort am Steuersatz herumfummeln und die anderen der Schimäre einer von Arbeit gänzlich befreiten Gesellschaft nachlaufen, und das garantierte Mindesteinkommen wäre das Opfer.
Die Entscheidung, die verlangt ist, ist in Wahrheit eine
ganz andere. Sie ist in der Qualität nicht anders als die Garantie der
Gleichheit vor dem Gesetz und des gleichen Wahlrechts. Es ist ein Schritt zu
tun, der seiner Natur nach unwiderruflich ist. Gewiß schützen Verfassungen
nicht vor Tyrannen, zumal nicht vor dem Mediencharisma populistischer Führer.
Aber sie verkörpern, wenn sie gut sind, die besten Errungenschaften einer
zivilisierten Gesellschaft, das also, hinter das man nicht mehr zurückfallen
will. Im normalen Gang der Dinge zumindest binden sie die Hände der politisch
Tätigen, und noch im nicht-normalen Gang schaffen sie ein Hindernis für
verderbliche Entscheidungen. In die Verfassung im weiteren Sinne gehört auch
das Mindesteinkommen. Es muß als Grundbestand der Staatsbürgerrechte
Anerkennung finden, weil sein Sinn darin liegt, eine Ausgangsposition zu
bestimmen, hinter die niemand zurückfallen darf.
Ein solcher Ansatz hat auch konkrete Folgen. Wer Arbeit
und Einkommen entkoppeln will, muß ein möglichst hohes Mindesteinkommen
fordern. Wer nur die Vereinheitlichung der Skalen in einem einzigen (positiven
und negativen) Steuersystem will, kann so herzlos oder sozial sein wie er will.
Wer dagegen das garantierte Mindesteinkommen als Staatsbürgerrecht will, muß
mit einem mäßigen, aber eben garantierbaren Betrag beginnen. Dieser braucht
nicht wesentlich über dem gegenwärtigen Sozialhilfesatz zu liegen. Entscheidend
ist nur seine grundsätzliche Unangreifbarkeit, also sein Anrechtscharakter.
Verfassungsökonomen (constitutional economists)
haben mit Recht bemerkt, daß die von ihnen geforderten nachhaltigen Bindungen
der Politik sich nur in ungewöhnlichen Situationen durchsetzen lassen. Nur in
einer Zeit der Hyperinflation kann man hoffen, verfassungsmäßige Beschränkungen
der Währungspolitik, der Haushaltspolitik oder auch der Tarifentscheidungen
durchzusetzen. Es mag sein, daß etwas Ähnliches für das garantierte
Mindesteinkommen gilt. Allerdings ist eine Zeit, in der hohe Arbeitslosigkeit
mit begründeten Zweifeln am herkömmlichen Sozialstaat zusammenfällt, einer
solchen Ausnahmesituation ziemlich nahe. Insoweit kommt es darauf an, die
Diskussion wachzuhalten.