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DIE ZEIT Nr. 29 vom 11.7.1986

 

Bürgergehalt für jeden Tunix?

Für das System der sozialen Sicherung werden neue Ideen gesucht

 

Von Wolfgang Gehrmann

 

 

Mitunter, wenn es sich günstig fügt, können sogar die Nachrichten des deutschen Fernsehens politische Einsichten vermitteln. Die eine news in der Tagesschau vom 1. Juni machte die neueste Verlautbarung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) publik. Die Industrielobby ermahnte die Bundesregierung unternehmerfreundlich zu bleiben, auf „die bewährte Wirkungskette von Gewinn, Investition und Beschäftigung zu setzen“, kurz: die Konsolidierungspolitik fortzuführen.

Ein paar Spots später nährte eine andere Nachricht Zweifel an der „bewährten Wirkungskette“. Rund 760 000 Haushalte, so die nüchterne Meldung, lebten Ende September 1985 von Sozialhilfe. Eine Steigerung um sechzig Prozent binnen der vergangenen vier Jahre, Hauptursache: Arbeitslosigkeit.

Die Bonner Politik und die soziale Wirklichkeit, sie passen nicht zusammen.

Vier Jahre zuvor hatte die Konsolidierungspolitik der Union und der Lambsdorff-FDP, vulgo Wende, nicht nur den BDI überzeugt, sondern entscheidende Teile der Wählerschaft - die Ergebnisse der Bundestagswahl 1983 bewiesen das. Der neue christdemokratische Finanzminister Gerhard Stoltenberg stand für den mausgrauen Part dieses Konzepts: die Bundesverschuldung drosseln, um die Zinsen zu drücken, und den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt senken, um privater Initiative mehr Luft zu geben. Arbeitsminister Norbert Blüm übernahm die anspruchsvollere und heiklere Rolle: den Sozialstaat umzubauen.

 

 

Mißbrauch nimmt zu

 

Über ein Jahrzehnt lang war die Mechanik der sozialen Sicherung - Renten und Sozialhilfe, Kuren und Zahnbehandlung, Umschulung und Bafög - immer mehr verfeinert und erweitert worden. Viele dieser Segnungen, so fanden Christdemokraten und Liberale nun, wurden mittlerweile von Leuten mißbraucht, die Solidarität und Hilfe weder verdient noch nötig hatten. Ständig steigende Beiträge zu Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen ließen den Sozialstaat allmählich unbezahlbar erscheinen.

Eine geringere Belastung von Arbeitnehmern und Betrieben mit Sozialabgaben, so das Kalkül der Konservativen, würde wirtschaftliche Dynamik freisetzen, Leistung wieder lohnend machen, am Ende die Beschäftigungskrise bewältigen helfen. Gegen das sozialdemokratische Konzept vom alle umsorgenden Sozialstaat setzte Blüm deshalb ein postmodernes Prinzip der Sozialpolitik: Subsidiarität. Nicht Mammutkliniken, nicht öffentlich bestellte Sozialhelfer sollen denen beiseite stehen, die Not leiden, sondern erst einmal die heimelige, kleine Gemeinschaft - Freunde, Familie, Nachbarn. Staatliche Instanzen treten erst ein, wenn niemand andern mehr da ist.

Ein halbes Jahr vor der kommenden Bundestagswahl mehren sich aber Zweifel, ob Union und Liberale noch einmal mit dem alten Konsolidierungskonzept antreten können. Stoltenberg steht zwar mit seinem Teil so schlecht nicht da: Die Neuverschuldung des Bundes sinkt tatsächlich, Zinsen und Inflation sind unten. Doch die sozial-politische Seite der Sparstrategie hat sich nicht bewährt. Sie läßt sich nicht mehr legitimieren und kommt nach nur einer Legislaturperiode Lebensdauer aus der Mode.

Dreierlei hat die Ideen von Subsidiarität und Konsolidierung in der Sozialpolitik desavouiert. Erstens läuft die Konjunktur nun schon im vierten Jahr gut. Die Unternehmen fahren dicke Gewinne ein. Die Arbeitslosigkeit aber bleibt unverändert hoch. Selbst wenn sie aus ökonomischen Gründen überzeugend wäre, läßt sich da eine Politik des Sparens an den Sozialleistungen nicht mehr vertreten.

Zweitens tauchen neue Arme auf. Lange Arbeitslosigkeit läßt mehr und mehr Menschen aus dem System der sozialen Sicherung kippen. Jugendliche, die nach der Schule oder nach der Lehre keine Jobs finden, und arbeitslose Uni-Absolventen finden gar nicht erst Zutritt zum Sicherungssystem. Viele alte Leute - die Diskussionen um die schmalen Rentenerhöhungen der vergangenen Jahre haben das ins Bewußtsein gehoben - leben in Armut, weil ihre Ruhegelder nicht reichen. All dies verlangt eher nach Ausbau der sozialen Sicherung denn nach weiterem Sparen.

Drittens schließlich hat der sozialpolitische Konsolidierungskurs der christliberalen Regierung Kredit verloren, weil Norbert Blüm sich gar nicht an sein erklärtes Ziel gehalten hat. Im gleichen Maße, in dem er Rentnern, Arbeitslosen und Krankenversicherten zu Beginn der Legislaturperiode Verzichte und Obolusse auferlegte, hat er später neue soziale Segnungen ausgeteilt - vor allem an Frauen und Familien. Die Ausdehnung des rentensteigernden Erziehungsjahres auf die Generation der Trümmerfrauen sind das aktuellste Beispiel. Mit befremdlichem Stolz legte Blüm vergangenen Montag den jüngsten Sozialbericht vor. Die Sozialleistungen betragen danach in diesem Jahr stolze sechshundert Milliarden Mark - achtzig Milliarden Mark mehr als 1982, im letzten Jahr der SPD-geführten Regierung in Bonn. Den Vorwurf des Sozialabbaus braucht Kohls Arbeitsminister deshalb im kommenden Wahlkampf nicht ernsthaft zu fürchten. Was ihm aber abhanden gekommen ist, das ist die leitende Idee seiner Politik. Konsolidierung kann das Zukunftskonzept nun nicht mehr heißen. Neue Leitgedanken sind gefragt.

Unterderhand hat sich eine Grundidee der Sozialpolitik auch schon ausgesät - ohne Blüms Zutun, eher zu seinem Entsetzen. Der neue Gedanke heißt Grundsicherung.

Seit Bismarcks Sozialgesetzen basiert in Deutschland die Sicherung im Alter, gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit auf dem Äquivalenzprinzip: Leistung gegen Beitrag. Nur wer aus seinem Arbeitseinkommen Beiträge an Krankenkasse, Renten- und Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, kann bei Bedarf aus den Sozialkassen Geld bekommen. In der Renten- und Arbeitslosenversicherung bemißt sich sogar die Höhe der möglichen Bezüge nach der Höhe der eingezahlten Beträge.

Es geht auch anders. In etlichen Ländern - Skandinavien, Großbritannien, den Niederlanden etwa - werden Alterseinkommen, Arbeitslosengeld und Gesundheitsversorgung auf die eine oder andere Weise aus dem allgemeinen Steuereinkommen bezahlt. Jeder Bürger hat Anspruch darauf, nicht nur, wer Beiträge in spezielle Sozialkassen gezahlt hat. Was in Deutschland eher nach dem Muster einer individuellen Versicherung organisiert ist, wird dort durch allgemeine Umverteilung von Einkommen geregelt. Bei uns funktioniert lediglich die Sicherung gegen die ärgste Not, die Sozialhilfe, nach dem Umverteilungskonzept.

Doch das Prinzip scheint hierzulande mehr und mehr Freunde zu finden, und zwar in allen politischen Lagern. Als der frischgekürte Bonner Wirtschaftsminister Martin Bangemann im April vergangenen Jahres mit dem dilettantisch dargebotenen Vorschlag debütierte, die althergebrachte Rentenversicherung durch eine staatsfinanzierte Grundrente für alle Bürger zu ersetzen, erntete er soviel Hohn und Spott, daß er dieser Idee flugs öffentlich wieder abschwor. Mittlerweile aber hat er Mitstreiter bekommen - und ist nun auch selbst wieder dafür.

Die Grünen in Bonn plädieren ebenso für die Grundrente wie der CDU-Professor Kurt Biedenkopf. Der Berliner Sozialsenator Ulf Fink will den Rentnern ein staatliches Mindesteinkommen garantieren und auch die SPD ist für eine Minimum-Rente. Dagegen ist Bonns Sozialminister Norbert Blüm.

 

 

Aus der Not geboren

 

Was die Idee suspekt macht: Sie ist eher eine Geburt der Not denn Resultat zukunftsgewendeten sozialpolitischen Denkens. Die Rentenkassen werden nach der Jahrtausendwende leer sein, weil es dann zu wenige Beitragszahler und zu viele Rentner geben wird. Die Alterskassen werden nur mit Hilfe von Steuermitteln flüssig bleiben. Da, so argumentieren viele, könne man auch gleich das ganze System auf eine staatsgarantierte Grundrente umstellen, die dann jeder durch freiwillige Beiträge oder Lebensversicherungen aufstocken mag.

Doch damit geht die Gefahr einher, daß die durch jahrzehntelange Beiträge erworbenen Rentenansprüche der kommenden Ruhestandsgenerationen beschnitten werden. Vater Staat ist ein unsicherer Kantonist. Wer garantiert, daß die Grundrente immer hoch genug sein wird, daß nicht staatliche Willkür sie nach Belieben schmälert, wenn die öffentlichen Kassen künftig einmal leer sein sollten?

Auf die Grundrente kann man sich nur einlassen, wenn ein solider gesellschaftliche Konsens darüber herbeigeführt wird, daß das Äquivalenzprinzip in der sozialen Sicherung generell ausgedient haben soll. Nur in einer gründlichen öffentlichen Debatte können die Bedingungen ermittelt werden, denen eine staatsgarantierte Grundsicherung gehorchen muß. Diese Bedingungen müßten Grundgesetzrang haben.

Die Debatte kommt in Gang. Einen atemberaubenden Anstoß verdankt sie den Grünen. Sie wollen nicht weniger als ein allgemeines Bürgergehalt. Rente, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Bafög, Wohngeld - all das soll ersetzt werden durch ein Einheitsgehalt, das jeder Bürger bekommt, egal ob er arbeitet oder nicht.

Die Logik dahinter: Immer mehr Arbeit wird von Maschinen geleistet, den Menschen bleibt immer weniger zu tun. Es wird sinnlos, den durch steigenden Kapitaleinsatz produzierten gesellschaftlichen Reichtum nach Maßgabe der individuellen Arbeitsleistungen zu verteilen. Eine reiche Gesellschaft muß auch diejenigen ihrer Mitglieder ernähren, die keine Arbeit finden (wollen).

Für dieses Schlaraffenlandkonzept spricht, dass in der Tat unser herkömmliches, arbeitszentriertes System der sozialen Sicherung offenbar nicht mehr befriedigend funktioniert, weil die Chancen vieler Leute auf dauerhafte Arbeit kleiner geworden sind. Ohne Arbeit kann niemand ausreichende Ansprüche auf soziale Sicherung erwerben.

Die entscheidende Frage ist allerdings, ob wir uns ein Bürgergehaltssystem auch leisten können. Selbst die lockeren Modellrechnungen, mit denen die Grünen da schnell bei der Hand sind, lassen das zweifelhaft erscheinen. Eines dieser Kalküle nimmt zum Beispiel an, daß jedem Erwachsenen aus Steuermitteln monatlich achthundert Mark gezahlt werden, Kinder bekommen vierhundert, Rentner eintausend Mark. Aufgebracht wird dieses Geld im wesentlichen durch eine Quellensteuer auf Einkommen und Gewinne ohne Freibeträge und mit einem einheitlichen Steuersatz von 54 Prozent.

Die Umverteilungseffekte dieses Modells sind für den weitaus größten Teil der Bevölkerung erstaunlich positiv. Über achtzig Prozent der Vier-Personen-Haushalte würden mit dem Grundgehalt netto besser dastehen als im herkömmlichen Einkommens- und Steuersystem. Erst Haushalte mit Monatseinkommen weit über fünftausend Mark wären wegen der rigorosen Besteuerung die Verlierer des Grundsicherungssystems.

Ein Bürgergehalt von achthundert Mark freilich reicht nicht aus, um ein Leben frei von Not zu erlauben. Eine realistische Grundsicherung müßte deutlich höher liegen. Dann allerdings bekämen die Umverteilung vermutlich auch schon die Mittelstandshaushalte mit viertausend Mark Monatseinkommen negativ zu spüren - das Modell hat keine ernsthaften Aussichten auf Mehrheiten.

Je mehr den Großverdienern über Steuern von ihrem Einkommen abgenommen wird, um es als Grundgehalt den Arbeitslosen, Alten und Armen zu geben, desto weniger lohnt sich die Arbeit für die Reichen. Sie werden tendenziell weniger arbeiten - oder mehr Steuern hinterziehen. Das Grundsicherungssystem droht den verfügbaren gesellschaftlichen Reichtum zu schmälern. Es läßt damit seine eigenen Finanzquellen versiegen.

Überdies wäre die Einführung eines allgemeinen Bürgergehalts ein Akt der Resignation vor der Beschäftigungskrise. Sinnvoller, als ein Bürgerrecht auf Einkommen zu fordern, ist es, das Recht auf Arbeit zu realisieren. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist der richtige Weg dazu.

Daß der Bonner Arbeitsminister sich mit der Idee der allgemeinen Grundsicherung wird ernsthaft befassen müssen, steht kaum zu befürchten. Zu befürchten ist aber, daß er vorschnell die Möglichkeit verwerfen wird, Elemente der Grundsicherung in die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung einzubauen. Die Umverteilungseffekte wären wahrscheinlich erträglich, wenn man Alten und Erwerbslosen aus Steuermitteln und unabhängig von ihrer früheren Arbeitsleistung ein Leben oberhalb der Armutsschwelle sichern würde.

Wenn er sich mit der neuen Idee anfreunden könnte, bräuchte Norbert Blüm nicht einmal seinem Hang zur Sparsamkeit abzuschwören. Eine bessere Sicherung der Bedürftigen schließt nicht aus, daß als überflüssig erkannte andere Sozialleistungen gestrichen werden.