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Text aus:
DIE ZEIT Nr.
44
23. Oktober
1987
Der fatale
Regelkreis - Geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus?
Von Hermann
Glaser
In Joachim
Schumachers 1937 im Exil veröffentlichten Buch „Die Angst vor dem Chaos“ findet
sich folgender, den Mechanismus des kapitalistischen Wirtschaftszyklus
charakterisierender „Dialog in Ruhrort”:
Kind: Warum
ist es so kalt bei uns, Mutter?
Mutter: Weil
wir keine Kohlen haben.
Kind: Warum
haben wir keine Kohlen?
Mutter: Weil
Vater arbeitslos ist.
Kind: Warum
ist Vater arbeitslos?
Mutter: Weil
es zu viel Kohlen gibt.
Dank des
sozialen Netzes, das man unter dem Eindruck der totalen Niederlage nach 1945
knüpfte, ist die Bundesrepublik vor dem Absturz in ökonomische Krisen, wie sie
die Weimarer Republik ruinierten, bislang bewahrt geblieben. Die soziale
Polarisierung hat jedoch in den letzten Jahren zugenommen. Es droht ein fataler
Regelkreis, der, strukturell gesehen, den von Schumacher beschriebenen weit
übertreffen dürfte: die Zwei-Drittel-Gesellschaft nämlich (der eine Teil der
Bevölkerung besitzt Arbeit, der andere Teil ist und bleibt arbeitslos).
Zwar steigt
das Sozialprodukt, wenn auch langsam; die Ausgegrenzten aber bleiben
chancenlos. Es müßte nicht so sein. Was das „Lastenausgleichsgesetz” 1952 in
Gang setzte, nämlich die Integration der ökonomisch und mental Enteigneten, der
Vertriebenen und Kriegsgeschädigten, könnte antizipatorische Vernunft in Zeiten
eines durchaus konsolidierten Wohlstandes erst recht bewirken: einen
kontinuierlichen Lastenausgleich zwischen denjenigen, die von der
technologischen Entwicklung profitieren, und denjenigen, die ihr zum Opfer
fallen. Wir leben unter unseren Verhältnissen.
Extrapoliert
und akzeptiert man die gegenwärtigen Trends, so muß man befürchten, daß die von
Aldous Huxley als „verführerischer Alptraum” beschriebene „schöne neue Welt”
bevorsteht: eine Mischung aus Genetik und Mikroprozessoren, aus Television und
Tranquilizern. Statt dessen wäre ein Weg in die Zukunft zu finden, der — um mit
Klaus Haefner, einem konservativen Futurologen (und Politikberater des
baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth), zu sprechen – eine
human-computerisierte Gesellschaft zum Ziel hat.
Der
postmoderne Grundsatz „Anything goes“ ist beruhigend nur für denjenigen, der
sich hedonistisch im Gegenwärtigen einrichtet und Zukunft unter dem Aspekt
„Nach-uns-die-Sintflut” sieht. Mag man auch dem Wahn anhängen, daß „alles
geht”; eine prognostische Einschätzung macht deutlich: Vieles geht eben nicht
mehr, freilich nur dann nicht mehr, wenn man sich die Fähigkeit zum
Vorausdenken erhalten hat. Angst erweist sich dabei als guter, weil warnender
Ratgeber. Mit Recht verweist Jürgen Habermas darauf, daß die „neue
Unübersichtlichkeit” (der Nebel der post-modernen Irrationalismen und Mythen)
das Projekt der Moderne und damit auch der Aufklärung wenn nicht schon als
verloren, so doch als „unvollendet“ erscheinen läßt; die erschöpften utopischen
Energien müßten sich wieder regenerieren und Zukunft, beflügelt vom „Prinzip
Hoffnung“, human gestalten wollen.
Die
Chip-Revolution
Die wohl
größte Revolution der Technikgeschichte begann und entwickelte sich in unserem
Jahrhundert: Nicht nur Handarbeit, auch Kopfarbeit kann auf Maschinen
übertragen werden. Rainer Maria Rilkes „in stiller Fabrik ölend sich selber
gehörender Automat“ scheint Wirklichkeit zu werden; die vollautomatisierte
Fabrik rückt in den Bereich der Möglichkeiten.
Der Weg von
der Makro- zur Mikroelektronik war kurz. Der 1946 von den Amerikanern gebaute
Röhrengroßrechner ENIAC bestand aus 18.000 Röhren; er wog 30 Tonnen, kostete
umgerechnet 1.500 000 Mark und verbrauchte 50.000 Watt. Heute nimmt ein
moderner Ein-Chip-Mikrocomputer mit vergleichbarer Leistung eine Fläche von 25
Quadratmillimetern ein; er arbeitet hundertmal schneller, zehntausendmal
zuverlässiger und braucht nur noch ein Watt an Stromerzeugung.
Seit 1958,
da der Amerikaner Kilby die erste integrierte Schaltung in Form mehrerer
miteinander verbundener Transistoren auf einem Stückchen Silizium
bewerkstelligte, erfolgte eine ständige Verfeinerung der Prozesse und die
Entdeckung neuer Effekte. Heute gibt es bereits den Megabit-Chip, der Platz für
1 048 576 Bits (Bit: eine Ziffer im Binärsystem) hat. Abermillionen Bits können
heute im Volumen eines Zuckerwürfels gespeichert und in Sekundenbruchteilen
transportiert oder besser transferiert werden. Die Chip-Revolution wirft die
Frage auf: Wird menschliche Intelligenz immer mehr durch künstliche Intelligenz
verdrängt?
Daß das
Gehirn nachkonstruierbar sei, wird zwar insgesamt verneint. Doch besteht die
Gefahr — so hat es Hubert L. Dreyfuß formuliert — weniger im Aufkommen
superintelligenter Maschinen, als vielmehr in dem subintelligenter Menschen.
Das Computer-Paradigma könnte so beherrschend werden, daß die Menschen
beginnen, sich selbst als Muster nach dem Arbeitsmodell der AI-(Artificial
Intelligence-) Forschung zu begreifen. Da begegnet ein Therapeut seinem
Patienten auf der Straße zu einem Zeitpunkt, zu dem eigentlich die
Analyse-Sitzung vereinbart ist; auf die erstaunte Frage des Therapeuten
antwortet der Patient strahlend: „Everything allright, Doc! My talking machine
is talking to your talking machine.” — „Alles bestens, Doktor! Meine Sprechmaschine redet mit Ihrer.“
Die schöne
neue Welt, bis in die Parlamente hinein, zeigt immer mehr kommunikative
Stereotypie. Die instrumentell-rationalistischen Ordnungsvorstellungen der
Industriegesellschaft, auf Drill und Dressur beruhend, haben einen Niedergang
individueller und kollektiver Kreativität bewirkt. Neil Postman hat am Beispiel
der Dominanz des Fernsehens den Verlust der Vernunftskräfte wie der Phantasie
des Menschen diagnostiziert — wobei sich eine solche „Enteignung” durchaus lustvoll
vollzieht.
Die
Freigesetzten
Der durch
die Mikroelektronik bewirkte Rationalisierungssog macht menschliche
Arbeitskraft in großem Umfang überflüssig (in bestimmten industriellen
Produktionsfeldern gilt sie bereits heute nur als „Restarbeit"). Das ist
in einem gewissen Umfange durchaus zu begrüßen, da damit auch inhumane,
entfremdete Arbeit wegfällt, weil sie von der Maschine übernommen wird. Die
verbleibende „lebendige Arbeit” müßte aber gerecht verteilt werden; das Recht
auf Arbeit ist als Grundrecht unumstößlich.
Die gerechte
Verteilung von Arbeit ist möglich durch die Schaffung von neuen Arbeitslätzen
wie durch Arbeitszeitverkürzung; Arbeitsplatzneuschaffungen sind vor allem
notwendig im pädagogischen, sozialen, soziokulturellen und kulturellen Bereich,
da hier zunehmend die Bedürfnisse einer immer weniger arbeitenden Gesellschaft
liegen werden.
Die
bisherige Entwicklung im Bereich der Arbeitszeitverkürzung war, lediglich
unterbrochen durch das Dritte Reich, vor allem geprägt durch den Kampf der
Gewerkschaften um die Verringerung der Arbeitszeit – verbunden mit dem Ringen
um Verbesserung der sozialen Situation der Arbeitnehmer. In der neuen, durch
Mikroprozessoren geprägten Phase der Entwicklung könnte solcher Antagonismus
abgelöst werden durch den gesellschaftlichen Konsens, daß immer mehr Menschen
eine immer länger werdende Zeit ihres Lebens (wobei die mittlere
Lebenserwartung der Menschen sich innerhalb eines Jahrhunderts verdoppelt hat)
immer weniger zu arbeiten haben.
Dies
schließt einen weiteren Konsens ein: daß nämlich, durchschnittlich gesehen,
alle Menschen für höher qualifizierte Arbeit begabt werden können, damit auf
diese Weise die gerechte Verteilung der noch vorhandenen Arbeit konkret möglich
wird.
Technozentrisches
Denken bekennt sich, aus durchaus verständlichen Gründen, nicht zu einer
solchen Anthropologie. Es erwartet, daß angesichts der steigenden
Qualifikationsanforderungen immer weniger Menschen immer mehr arbeiten müssen,
und immer mehr Menschen immer weniger zu arbeiten in der Lage sein werden. Den
„realen Menschen” akzeptieren, bedeutet für Klaus Haefner, die genetische
Konstitution und die frühen Kindheitserfahrungen als prägende Kräfte
hinzunehmen. Eine unreflektierte Milieutheorie tue so, als ob jedermann zu
jeder Zeit durch entsprechende Bildungs- und Informationsmaßnahmen beliebig
gestaltbar sei; dies erweise sich aber als Irrtum. Die „Substituierbaren”, die
große Gruppe von Menschen, deren Tätigkeiten von computerisierten Automaten
übernommen werde, nehme somit in erheblichem Maße zu. Bereits heute gibt es in
der Bundesrepublik so viele arbeitswillige und arbeitsfähige Menschen, die
keine Arbeit haben, wie nie zuvor.
Mentale
Verelendung
Mit Recht
nennt Oskar Negt Arbeitslosigkeit einen Gewaltakt, einen „Anschlag auf die
körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon
betroffenen Menschen”; sie sei Raub und Enteignung der Fähigkeiten und
Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule und der Lehre
(vorausgesetzt, diese Ausbildungsstufe werde überhaupt noch erreicht) in der
Regel in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozeß erworben wurden und die
jetzt, von ihren gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten abgeschnitten, in
Gefahr stünden, zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen
hervorzurufen.
Die
Identitätsprobleme jugendlicher Arbeitsloser, einschließlich wachsender
Selbstmordgefährdung, sind dabei besonders groß. Es fehlt nicht nur die
aktivierende Lebensperspektive, sondern auch der, vor allem über Arbeitspraxis
sich ergebende gesellschaftliche Bezug, was zu ausgeprägtem Narzißmus sowie zum
Verlust von Widerstandskraft und Selbstorganisationsfähigkeit führt.
Nicht minder
problematisch ist selbst das Psychogramm der 55- und 60jährigen, die vor
Erreichen der Altersgrenze freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand gehen oder
über die Sozialpläne vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden. »Wenn man ein
Leben lang berufstätig war und kommt in diese Situation, ist das Loch da.” So
die Äußerung eines „jungen Alten", den die Vorruhestandsregelung
keineswegs glücklich machte. Das Grundproblem kann durch ein Zitat aus einem
anderen Gesprächsprotokoll umrissen werden: „Wir müssen damit fertig werden,
daß wir mehr Freizeit haben müssen." Angesichts der weitverbreiteten
Ignoranz gegenüber den Problemfeldern der Politischen Psychologie,
Sozialpsychologie und Sozialpathologie wundert es nicht, daß die durch
Arbeitslosigkeit bewirkte bedrohliche mentale Umstrukturierung der Gesellschaft
viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird. Dies gilt auch und gerade für die
Gewerkschaften, die sich verstärkt für die Entwicklung einer „politischen
Kultur" engagieren und damit den Schutz (die „Immunisierung") gegen
(nach Hannah Arendt) aktivste Form des Lebens, das Denken, wieder als primäre
Aufgabe der Politik empfunden wird und die Probleme nicht im Schaumberg
unverbindlichen Geredes erstickt werden. Es markiert einen Tiefstand
politischer Kultur, daß es zum Beispiel angesichts der anstehenden großen
Probleme noch nicht gelungen ist, ein Gremium von unabhängigen
„Vordenkern" zu schaffen, das – jenseits von Proporz, Lobbyismus und
einseitigen, meist ökonomischen Interessen – Orientierungshilfen zu geben
vermöchte. Ein Vorbild dafür könnte der frühere „Deutsche Ausschuß für
Bildungsfragen" (dann „Deutscher Bildungsrat") sein. Zusammen mit den
Politikern wären die Probleme der Arbeitslosigkeit wie der damit verknüpften
mentalen Verelendung radikal zu durchdenken, um „von den Wurzeln her” das
neuerliche Wachstum kollektiver Solidarität zu bewirken.
Vita activa
Im
Kapitalismus, so Karl Marx, wird der Mensch mit Hilfe von Arbeit unterjocht und
ausgebeutet; jedem wird ein bestimmter ausschließlicher Kreis von Arbeit
aufgedrängt, aus dem er nicht heraus kann: „Er ist Jäger, Fischer, Hirt oder
kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben
verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht
einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem
beliebigen Zweig ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion
regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun,
morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem
Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe; ohne je Jäger, Fischer, Hirt
oder Kritiker zu werden.” Der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich
der Freiheit erweist sich als ein Sprung aus Arbeit in Tätigkeit. Müßiggang ist
nicht aller Laster Anfang, sondern im Gegenteil: ein Vorstoß zu humaner
Selbstbestimmung.
Wird, was
Marxismus und Sozialismus nicht bewirken konnten, nun in „Computopia” (im Reich
der human computerisierten Gesellschaft) realisiert werden? Wird die Option
eingelöst werden, die nach einem Diktum von Ralf Dahrendorf in jeder Arbeit
steckt? „Das heißt, daß die Forderung die sein muß, aückweise zu verkaufen
genötigt ist, um genügend Mittel zum Leben zu erwerben. Damit sie qualitativ zu
dem wird, was Negt Emanzipations-, Orientierungs-, Humanzeit nennt, bedarf es
soziokultureller Kompetenz. Diese fehlt weitgehend. Hannah Arendt hat darauf
hingewiesen, daß die Vita activa, als Erfüllung eines uralten Traums, gerade in
der Arbeitsgesellschaft, die doch von den Fesseln der Arbeit befreien sollte,
verlorengegangen sei; diese Gesellschaft kenne kaum noch vom Hörensagen die
sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die Befreiung sich lohnen würde.
"Was uns bevorsteht ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die
Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch
versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?"
Solcher
Pessimismus verkennt freilich die Lernfähigkeit des Menschen. Möglich wäre es
durchaus, daß eine demokratische Industriegesellschaft die dafür notwendige
Condition Humaine zu schaffen vermag.
Kulturindustrie
Die demoskopisch
erfaßte Realität zeigt, daß man 1965 noch 43 Prozent der Tageszeit benötigte,
um die Grundbedürfnisse Schlafen und Essen zu befriedigen, heute sind es 40
Prozent. Das vor zwanzig Jahren für die Berufsarbeit und das Einkaufen
benötigte Zeitbudget hat sich von 33 auf 24 Prozent reduziert; der
Freizeitanteil rückte von 24 auf 36 Prozent vor. Im Jahre 1975 schätzten 48
Prozent den Beruf und 38 Prozent die Freizeit als besonders wichtig ein. 1985
rangiert die Freizeit vor der Erwerbstätigkeit. 86 Prozent sind der Meinung,
daß sie besser in der Freizeit das tun könnten, was einem Freude macht; 9
Prozent sehen dafür auch eine Möglichkeit im Beruf.
Die Wünsche
nach einem Zusammensein in einer Gruppe und nach kreativer Betätigung nehmen
zu; die Wirklichkeit zeigt demgegenüber eine Verhaltenseinengung, vor allem
bewirkt durch die Attraktivität des Fernsehens. 1976 ermittelte eine
amerikanische Untersuchung für den US-Bürger innerhalb eines Zeitraums von
dreißig Jahren einen Rückgang pro Tag der Essenszeiten von 107 auf 70 Minuten,
des Spazierengehens von 22 auf 1 Minute, des Kinobesuchs von 22 auf 3 Minuten,
des Radiohörens von 26 auf 4 Minuten, des Zuschauens bei Sportveranstaltungen
von 7 auf 2 Minuten und des Bücherlesens von 22 auf 9 Minuten. Qualitativ ist das
„Humankapital”, wie es das zunehmende Zeitbudget bereit hält, vor allem durch
die Freizeit- und Kulturindustrie bedroht. Zwar können die Produkte und
Angebote dieser Industrie durchaus auch wertvolle Hilfsmittel für autonome
Freizeitgestaltung sein, doch nimmt die Gefahr zu, daß angesichts mangelnder
Fähigkeit zur Selbstbestimmung der Arbeitslose mit Surrogaten abgesättigt wird.
Der Zeitgewinn im Sinne von Humanzeit geht dann wieder verloren durch
Zeit-Diebstahl.
Wie sehr die
Politik in der Bundesrepublik bei dem Bemühen, eine humane, an den wahren
menschlichen Bedürfnissen orientierte „Freizeitkonzeption” zu entwickeln,
versagt hat, macht die Medienpolitik besonders deutlich. Die Privatisierung
genannte Kommerzialisierung zielt auf eine „schöne neue Welt", in der
(Denk-)Tätigkeit auf sinnliches Vegetieren „heruntergemengelt” wird. „Der
Verkabelungswahn der Bundesregierung ist die absurde Spitze dieser kulturellen
Wende, die, gleichsam kontrapunktisch, der bewußt entfesselten
Wirtschaftsdynamik nach den räuberischen Regeln des Manchester-Liberalismus als
Legitimationsfassade aufgesetzt ist. Dieselben Kräfte, die einer
Traditionalisierung der Kultur das Wort reden, in deren Folge die Familie
wieder den Status einer Grundzelle der Gesellschaft erhalten soll, arbeiten mit
äußerster Betriebsamkeit daran, die Wohnungen und Häuser noch stärker als
bisher mit den vorfabrizierten Programmen der Kulturindustrie einzudecken – was
mannigfaltige Wirkungen haben mag, aber mit Sicherheit nicht die eine, daß
jetzt in den durch Mediendruck zusätzlich verengten Beziehungsparzellen der
Familien Gelegenheit und Bereitschaft wachsen, kulturelle Eigentätigkeiten zu
entwickeln und über Probleme sich zu verständigen, die eigene Lebensinteressen
berühren." (Oskar Negt)
Verallgemeinernd
kann man das »Freizeitkonzept« einer Politik, die jeder antizipatorischen
Vernunft ermangelt, auf die Formel bringen: Die infolge der technologischen
Entwicklung ganz oder teilweise „Freigesetzten” werden mit Hilfe der
Kulturindustrie, vor allem der Telekratie, still-gesetzt. Die dadurch und mit
Hilfe konsumptiver Idyllik erzeugten „Müßiggänger” müssen freilich in einem
gewissen Umfange wieder „mobilisiert" werden, damit sie die, wenn auch
reduzierte staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten einigermaßen wahrnehmen.
Milliarden von D-Mark sind für Durchblutungsmittel, Psychopharmaka und andere
Chemotherapeutika auszugeben, damit affirmative Erschlaffung nicht zum
gesellschaftlichen Black-out führt. Psychogerontologie wird ein immer größeres,
auch auf immer mehr jüngere Menschen sich ausdehnendes Anwendungsfeld erhalten
– es sei denn „Kulturtätigkeit", in ihrer Herausforderung das beste
Durchblutungsmittel, wird als Lösungsmöglichkeit für das Problem mentaler
Vergreisung akzeptiert (und entsprechend finanziert).
Die
Herausforderung an die Kulturpolitik, eine sinnvolle Nutzung des individuellen
wie kollektiven Zeitgewinns durch kreative, selbstbestimmte Tätigkeiten zu
bewirken, wird verstärkt durch die demographische Entwicklung. Nicht nur die
Mikroprozessoren sorgen dafür, daß die „Vergreisung” der Gesellschaft durch den
Verlust von Lebensarbeitszeit (mit dem Ruhe-Stand als Sinn-Entzug) zunimmt; die
biologische Situation ist gleichermaßen ins Kalkül zu ziehen. Im Auftrag des
Bundesinnenministers hat eine Arbeitsgruppe „Bevölkerungsfragen", bezogen
auf den Stand 1984, die Bevölkerungsentwicklung geschätzt. Der Anteil der unter
20jährigen wird von 24 Prozent zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf 15 Prozent im
Jahr 2030 sinken; gleichzeitig steigt der Anteil der über 59jährigen von 20
Prozent auf 38 Prozent. Der Anteil der 20 – 59jährigen, heute 57 Prozent, geht
auf 47 Prozent zurück. Diese rapide Schrumpfung und Vergreisung — so Karl Otto
Hondrich im Spiegel — bedeutet in Zeitbegriffen gesellschaftlichen Wandels einen
atemberaubenden, wenn auch von den einzelnen nicht wahrgenommenen Prozeß. „Die
alternde Gesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft des Wohlstandes, sondern
auch des Wehleids, der Sorgen und des Selbstbezugs. Was die Alten heute den
Jungen vorwerfen, ist weniger für diese als für die Gesellschaft
charakteristisch, in der der Anteil der Jugendlichen kleiner wird."
Es ist, das
wäre einzuwenden, durchaus möglich, „Alter" gesellschaftlich
umzudefinieren: mit Hilfe anderer Lebensführung. Der Abbau körperlicher und
geistiger Fähigkeiten ist durch hinreichendes Training weitgehend zu
verhindern; vor allem kann durch sinnvolle Tätigkeit Frustration und
Resignation überwunden werden. Aufs „lebendige Leben" kommt es an.
Kulturelle
Schlüsselqualifikation
Zukünftiger
Kulturpolitik fällt als wichtigster Aufgabenbereich die Ausbildung, Bildung,
„Konditionierung" jeder Altersstufe fürs Tätigseinkönnen zu — über die
Vermittlung von Schlüsselqualifikation.
Andre Gorz
hat in einem Gespräch darauf hingewiesen, daß der Erfolg und die
emanzipatorische Wirkung von Arbeitszeitverkürzung (ohne Lohnausfall) davon
abhänge, ob die Gewerkschaften und die Kommunen, die politischen Verbände und
Kirchen usw. den Menschen in ihrer „freigesetzten" Zeit gute Möglichkeiten
und Rahmenbedingungen böten zur Selbstgestaltung ihres Lebens und ihrer Lebens-
wie Umwelt, zur Befriedigung ihrer individuellen wie kollektiven humanen
Bedürfnisse. high tech — high cultur. „Hochkultur" ist damit allerdings
nicht gemeint, sondern die „Totalität" von Kultur: von höchster
Umfänglichkeit, höchster Vielfalt, höchster Zugänglichkeit, höchster
emanzipatorischer Qualität und — angesichts der Probleme der gesellschaftlichen
Wandlung - von höchster Dringlichkeit.
Die
idealistische Forderung, die auf den autonomen Menschen zielt, wird dabei,
zumindest in einem gewissen Sinn, von der pragmatischen Produktionsphilosophie
unterstützt. In den automatisierten Fabriken braucht man den geschickten,
diagnosefähigen, verhaltenssouveränen Arbeiter mit besonderer Teamfähigkeit.
Dies bedeutet zumindest eine Ausweitung der Spezialfunktion in Richtung
Schlüsselqualifikation. Wenn zum Beispiel Klaus Haefner an der gegenwärtigen
Schule die ungenügende Berücksichtigung der Informatik kritisiert, dann geht es
ihm eben nicht nur um die Tatsache, daß auf diesem Gebiet bei zunehmend offenen
Stellen arbeitspolitisch Abhilfe geschaffen werden sollte; ihn kümmert auch die
Gefahr eines Zerfalls der Gesellschaft in zwei Kulturen, dann nämlich, wenn
einem Teil Informatik als Spezial- oder Schlüsselqualifikation vorenthalten
bliebe.
Vom
gewerkschaftlichen Standpunkt aus wendet hier freilich Hans Preiss mit Recht
ein, daß lebenslanges Lernen zu lebenslanger Angst um Kompetenzen und zu einem
Wettlauf nach qualifikatorischer Anerkennung führen könne, ohne daß die
Position derjenigen entscheidend verstärkt würde, die sich um soziokulturelle
Kompetenz bemühten. Qualifikationsoffensiven, wie sie heute von Arbeitgebern
und Regierungsvertretern nachhaltig propagiert würden, gerieten damit zu dem,
was diejenigen, die die Macht besäßen, schon immer betrieben hätten: gezielte
Zuteilung von Qualifikationschancen.
Schlüsselqualifikation
erweitert solche „Beengung". Nach Benjamin Bloom versteht man darunter das
Vermögen, erworbenes Wissen, erworbene Fähigkeiten und Fertigkeiten in einer
neuen, anders gearteten Situation anzuwenden, über nicht streng fachgebundenes
Wissen und fachgebundene Tätigkeit zu verfügen und diese in einem relativ
großen Berufsfeld zur Situationsbewältigung zu aktivieren, — unabhängig vom
Sach-, Fach- oder Stoffgebiet gleichermaßen kompetent disponieren, Probleme
analysieren, Kontakte herstellen, Kooperation leisten, Grundlagenwissen
anwenden zu können.
Qualifikation
der Qualifikateure
Damit der
Übergang von der Arbeits- in die Tätigkeitsgesellschaft gelingt, bedarf es
professioneller Hilfen. Der Mensch als animal laborans, das Jahrhunderte im
Gehäuse der Hörigkeit verbracht hat, kann nicht plötzlich zu „lebendiger
Arbeit" und zu Tätigkeit finden. Notwendig sind Kulturarbeiter, Kulturpädagogen,
Medienpädagogen, Animatoren, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, die
Selbstfindungszeit, Emanzipationszeit, Humanzeit, Tätigkeitszeit gestalten
helfen. Die Herstellung der materiellen Güter mag weitgehend an die
Mikroprozessoren delegiert werden; die eigentliche gesellschaftliche
Produktivität wird von Berufen kommen, die bislang, für vordergründig
ökonomisches Denken, als unproduktiv galten.
Die
entscheidende Frage ist nicht, ob der Arbeitsmarkt durch die Ausweitung der
Freizeit zusätzlich belebt werden kann — dies wird er auf jeden Fall —, sondern
ob es gelingt, den quantitativen Freizeitansprüchen qualitativ so zu begegnen,
daß Enkulturation stattfindet.
Der Sozial-
und Kulturarbeiter muß Hilfe zur Selbsthilfe leisten, nicht über, sondern in
den Dingen stehen (so wie er auch selbst am Angst- und Unsicherheitspotential
angesichts gefährdeter Zukunft teilhat). Er wirkt nicht von oben herab, unter
Verwendung individual- und sozialpsychologischen Herrschaftswissens, sondern
aus dem Bewußtsein, daß nur durch gemeinschaftliche Anstrengung, die in jeder
Person die Anlage zur Persönlichkeit sieht, das Werk gelingen kann.
Durch
„organisierte" Relexion und Praxiserfahrung ist zunächst die Qualifikation
der Qualifikateure zu verbessern. Solche Zusatzqualifikation ermöglicht es
zudem — angesichts des zunehmenden Bedarfs im „Tätigkeitssektor" —, die
Akademiker-Arbeitslosigkeit, bei der sich Lehrer und Geisteswissenschaftler
sowie Sozialwissenschaftler ganz obenan befinden, besser zu bekämpfen. Nach
offiziellen Schätzungen stehen bis 1990 rund 300.000 ausscheidenden
Erwerbstätigen mit Hochschulabschluß etwa 1.000.000 Bewerber gegenüber. Man
kann annehmen, daß sich die Lage noch verschärfen wird, zumal angesichts der
technologischen wie demographischen Entwicklung (z.B. Computerisierung der
Verwaltungsarbeit) weitere erhebliche Stelleneinsparungen erfolgen werden. Im
Schulsektor verschlechterte sich aufgrund zurückgehender Schülerzahlen die
Schüler-Lehrer-Relation kaum, wenn von den Lehrern, die in Pension gehen, kein
einziger ersetzt würde. In der Privatwirtschaft wird zunehmend qualifizierter
Führungsnachwuchs durch Praktiker aus den eigenen Reihen entdeckt. Dazu kommt,
daß viele Studenten bei der Wahl ihrer Fächer die Beschäftigungsaussichten
ungenügend berücksichtigen — zumal langfristig gültige Orientierungshilfen
nicht verfügbar sind.
Das Problem
der arbeitslosen Akademiker sei am Beispiel der arbeitslosen Lehrer
verdeutlicht. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit waren bis Ende 1985
etwa 30.000 stellenlose Lehrer bei den Arbeitsämtern gemeldet. Die bei den
Kultusbehörden vorliegenden Bewerberzahlen für eine Einstellung in den
Schuldienst lassen jedoch den Schluß zu, daß zur Zeit etwa 70.000 Lehrer ohne
Anstellung sind. Diese Zahl wird aufgrund der noch in Ausbildung befindlichen
Lehrer in den neunziger Jahren auf über 150.000 ansteigen.
Die paradoxe
Situation, daß die Arbeitslosigkeit in einem Bereich besonders stark ist, der
von der Bedarfslage her (zumindest nach den Prognosen antizipatorischer
Gesellschaftspolitik) die Schaffung sehr vieler neuer Stellen zuließe, ist
begründet in einem einseitigen Kosten-Ertrags-Denken, bei dem eben der
„Ertrag" wegen kurzfristiger Kalkulation, wenig beachtet wird. Man sollte
mehr an die durch Arbeitslosigkeit langfristig sich einstellenden
sozialpathologischen Deformationen denken, deren Therapie (wenn sie überhaupt
gelingt) einen viel größeren Mittelaufwand beanspruchen wird, als er bei
vorbeugenden Maßnahmen notwendig wäre. Die Bekämpfung der durch Sinnverlust
bewirkten Frustrationsaggressivität ist wesentlich kostspieliger als
soziokulturelle Bemühungen um ein selbstbestimmtes und damit glücklicheres
Leben.
Einen
Schritt in der richtigen Richtung stellt das Programm der
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) dar. Die dafür notwendigen Kosten werden von
der öffentlichen Hand im Rahmen „sozialer Fürsorge" übernommen. Die ABMler
leisten dafür Arbeit, die hinsichtlich ihrer Produktivität nicht als
„Erwerbsarbeit" bezeichnet werden kann, die aber dem gesellschaftlichen
Wohlbefinden dient.
Diesen
Bruttokosten stehen Einsparungen und Mehreinnahmen in den öffentlichen
Haushalten gegenüber, die sich aus der Senkung der Arbeitslosigkeit ergeben:
Einsparungen bei der Arbeitslosenhilfe; Einsparungen bei der Sozialhilfe;
Mehreinnahmen aus direkten Steuern; Mehreinnahmen aus indirekten Steuern.
Der Vorteil,
daß die von den AB-Maßnahmen erfaßten, nicht oder nur schwer vermittelbaren
Personen Berufserfahrung gewinnen können, wird freilich entscheidend
beeinträchtigt durch die Tatsache, daß AB-Maßnahmen immer nur für einen
gewissen Zeitraum möglich sind; danach werden die meisten wieder in die
Arbeitslosigkeit „zurückgestoßen". Die Hoffnung, daß aus AB-Maßnahmen,
z.B. bei Kommunen, Stellen entstehen und damit eine Dauerbeschäftigung erfolgt,
trügt meist angesichts der Misere der öffentlichen Haushalte.
Eine
Strategie zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit bestünde nur darin, daß
man mit Hilfe von ABM auf längere Dauer einen breiten Arbeitsmarkt schafft, der
nicht zur Verdrängungskonkurrenz führt, sondern sich in Bereichen entfaltet,
die bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben sind (weil eben im Sinne der
Marktwirtschaft unwirtschaftlich), und somit durch „öffentliches Geld"
finanziert werden müßten. Nur mit einer massiven Ausweitung der
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Sinne eines temporären Ersatzarbeitsmarktes
,(oder „zweiten Arbeitsmarktes") können zusätzliche öffentlich finanzierte
Arbeitsplätze gerade für die Gruppe der längerfristig Arbeitslosen geschaffen
werden. Ein Team von Verwaltungswissenschaftlern, Volkswirtschaftlern und
Politologen hat ein Programm für 665.000 Dauerarbeitsplätze durch
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen entwickelt, dessen besondere Qualität nicht
zuletzt darin besteht, daß es voll finanzierbar erscheint.
Die Bruttokosten
dieses Programms, also jene Belastungen, die den öffentlichen Haushalten
entstehen, wenn man die programmbedingten Haushaltsentlastungen an anderer
Stelle nicht berücksichtigt, sind leicht zu berechnen. Im Jahr 1985 hat das
Arbeitsentgelt eines ABM-Beschäftigten einschließlich der Arbeitgeberbeiträge
zur Sozialversicherung bei voller Arbeitszeit im Durchschnitt rund 36.000 Mark
betragen. Werden 665.000 Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt,
so belaufen sich die Gesamtkosten im Jahr auf 23,9 Milliarden Mark.
Die Addition
der aufgeführten Einsparungen und Mehreinnahmen, die sich aus der Realisierung
des Dauerarbeitsbeschaffungsprogramms für die öffentlichen Haushalte ergeben,
führt zu einer Summe von 15,1 Milliarden Mark je Jahr. 63 Prozent der
„Bruttokosten" des entworfenen Programms von 23,9 Milliarden Mark fließen
also in Form von programmbedingten Haushaltsentlastungen in die öffentlichen
Kassen zurück. Die vorgeschlagene Beschäftigungsgarantie für alle längerfristig
Arbeitslosen, was unter realisierbaren Bedingungen über 600.000 zusätzliche
Arbeitsverhältnisse ergäbe, finanziert sich somit zu fast zwei Dritteln selbst.
Ihr tatsächlicher finanzieller Mehraufwand für die öffentliche Hand
(Nettokosten) beträgt nach dieser Rechnung, die auf skeptischen und
vorsichtigen Annahmen beruht, knapp 9 Milliarden im Jahr. Die von der neuen
Bundesregierung beabsichtigte Steuerreform verschlingt etwa 44 Milliarden.
Staatsbürgerliches
Grundgehalt
Dauer-Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
wären die „erste Stufe" eines neuen Sozialkontraktes, den der
demokratische Sozialstaat einfordert. Ihm stünden freilich einflußreiche
gesellschaftliche Blöcke und deren Ideologien entgegen. Die beiden wichtigsten:
Unternehmer und Gewerkschaften obwohl sie in vielen Punkten verschiedener
Meinung sind, würden sie sich vorerst in der Ablehnung eines garantierten
Mindesteinkommens einig sein: Denn dieses greift ein Konstrukt an, auf das sich
die beiden Blöcke — bei der Verteilung der Rollen — einmal geeinigt haben und
das auch seit langer Zeit wirksam ist: die materielle und geistige Hegemonie
über die Lohnarbeiterschaft. Die Unternehmer - und nur sie - stellen die
materiellen Bedingungen zur Verfügung, die den Abhängigen das Überleben
ermöglichen; die Gewerkschaften — und nur sie — sorgen dafür, daß die abhängig
Beschäftigten „angemessen" bezahlt würden. Keine Arbeit, es sei denn durch
die Unternehmer; keine Lohnverbesserung, es sei denn durch die Gewerkschaften.
Für ein
staatsbürgerliches Grundgehalt, der die Rationalisierungsgewinne zugunsten
eines steten Lastenausgleichs im Sinne sozialstaatlicher Gerechtigkeit
umleitet, also den Rationalisierungsopfern (partiell) zugute kommen läßt, haben
Klaus Uwe Gerhardt und Arnd Weber ein Modell entwickelt, das durch sieben
Forderungen bestimmt ist:
• Es sollte ein wirksames Instrument zur
Linderung der ökonomischen Folgen der Massenarbeitslosigkeit sein.
• Es müßte selbstorganisierte und
alternative Ansätze unterstützen und damit helfen, Prozesse der Entstaatlichung
und Entkommerzialisierung einzuleiten.
• Es müßte der Tatsache Rechnung tragen,
daß nichtbezahlte Arbeit einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen
Reproduktion darstellt.
• Es müßte durchschaubar, gerecht und
nicht stigmatisierend sein.
• Es müßte finanzierbar sein und
Gründsätzen ökologisch orientierter Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik gerecht
werden.
• Es sollte die Bereitschaft zu einer
ökologischen Lebensweise fördern.
• Es müßte ausbaufähig sein und damit
längerfristig zur Lösung des Problem der Einkommensarmut auf internationaler
Ebene beitragen.
Die
Werkstatt-Idee
Der Topos,
der „Tätigkeit” bzw. „Meta-Arbeit” lokalisiert, heißt Werkstatt — eine
„pädagogische Verbindung", die man „für eine Art von Utopie" halten
kann. „Es schien mir, als sei unter dem Bilde der Wirklichkeit eine Reihe von
Ideen, Gedanken, Vorschlägen und Vorsätzen gemeint, die freilich
zusammenhingen, aber in dem gewöhnlichen Laufe der Dinge wohl schwerlich
zusammentreffen möchten.”
Diese Worte
Lenardos in Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre", ergänzt durch die
optimistische Bemerkung, daß durch Bilder das Mögliche und Unmögliche zu
verwirklichen sei, kann die durch antizipatorische Vernunft vorgesehene
„Auftragslage" charakterisieren. „Modelle” weisen den Weg zur realen
Utopie.
Der Begriff
Werkstatt — als Ort, da Werke stattfinden, Topos eines soziokulturellen
Begründungszusammenhangs mit der Absicht, Tätigkeit (jenseits der
Erwerbsarbeit) zu ermöglichen — muß als überwölbender Begriff verstanden
werden. „Wenn die allermeisten Menschen heute neben, nach oder bei
Unterbrechung der Erwerbsarbeit mehr Zeit haben, um sich um ihre
Familienangehörigen, ihre Nachbarn, ihre Freunde zu kümmern, ergibt sich die
Frage, ob unser soziales Sicherungssystem — und nicht nur dieses — durch eine
Do-it-yourself-Schiene wenigstens ergänzt werden könnte und sollte. Dadurch
würde unmittelbare Solidarität neu ermöglicht, manche soziale Versorgung
menschlicher, weil näher und schließlich auch billiger.” (Werner Remmers)
Eine
„Kategorietafel” für Werkstatt-Praxis sollte beachten:
• Nähe zum Wohnort; aber doch so weit
von ihm abgetrennt, daß ein deutlicher „Ortswechsel” stattfindet, da allein
schon dieser motiviert und (im recht verstandenen Sinne) „diszipliniert”:
Überwindung des „Sichgehenlassens”.
• Tätigkeit in Gruppen, welche die
individuelle Selbst- und Mitbestimmung ernst nehmen, die offen sind für das
Hineinwachsen neu Hinzukommender, die aber auch das Ausscheren in eigenwillige
Tätigkeitsbereiche fördern.
• Produktiv-kreative Tätigkeit, die
sinnvoll ist (jenseits des Hobbyismus, der zu Hause seinen Ort haben mag).
• Gesellschaftliche Anerkennung: indem
solche Werkstätten, abgesehen von der notwendigen „Grundversorgung” der in
ihnen Tätigen, eine der Erwerbsarbeit adäquate „Aura” erhalten.
Zur
Werkstattidee gehört als konstituierendes Element die Bereitschaft und
Fähigkeit zur Selbsthilfe. Die gesellschaftlichen Institutionen und „Agenturen“
haben mit Absicht oder aus Nachlässigkeit sich nicht genügend um die Autonomie
des Menschen gekümmert. Das anthropologische Fundament unserer
„Erziehungsanstalten” ist gerade im Hinblick auf die Zukunft der
Arbeitsgesellschaft brüchig und müßte durch eine Pädagogik der Selbstbestimmung
gefestigt werden. Gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die von dem an sich
richtigen Grundsatz bestimmt ist, daß das Lebensrisiko nicht privatisiert
werden darf, hat zunehmend zu einer Segmentierung geführt, .die den Menschen in
seiner Ganzheit nicht genügend beachtet. Die Werkstatt-Idee soll konkret davon
überzeugen, daß, bei aller Entfremdung, Werke selbständig stattfinden können.
Bei den
Selbsthilfegruppen, die dementsprechend zu initiieren, zu fördern, zu beraten
sind, handelt es sich, laut Fritz Vilmar und Brigitte Runge, zum einen um
private Selbsthilfe (um Gruppen, deren Mitglieder ausschließlich sich selbst
helfen wollen und sich zu diesem Zwecke zusammentun), zum anderen um soziale
Selbsthilfe (um Aktivitäten von Gruppen, die einen größeren Kreis von
Betroffenen unterstützen). Das Getto der beschränkten Privatsphäre wird dadurch
überwunden.
Ähnlich wie
die Alternativ- bzw. Parallelwirtschaft die Einseitigkeit von Großsystemen zu
korrigieren sucht, sind die Selbsthilfegruppen um den Abbau der
Sozialbürokratie, der eine humane Binnendifferenzierung abgeht, bemüht. Die
rund 40.000 autonomen sozialen Selbsthilfegruppen (Stand 1986) ordnen
Vilmar/Runge sechs Hauptbereichen zu:
• Arbeitswelt: Initiativen für
Arbeitszeitverkürzung, Öko-Banken, Arbeitslosen-Selbsthilfe, selbstorganisierte
Ausbildung, selbstverwaltete Betriebe;
• Behinderte und Kranke:
Gesundheitsinitiativen, Therapiegruppen, Therapietreffs;
• Diskriminierte: Obdachlosenhilfe,
Selbsthilfe für Homosexuelle, Selbsthilfe für Ausländer,
Dritte-Welt-Initiativen, Straffälligenhilfe;
• Benachteiligte: Jugendzentren,
Kinderläden, Altenselbsthilfe, Selbsthilfe von und für Frauen;
• Freizeit-, Bildungs- und
Kulturbereich: selbstorganisierte Freizeit, soziokulturelle Zentren,
alternative Öffentlichkeit, freie Schulen, Wissenschaftsläden.
Sozialstaatlicher
Dirigismus hat mit seiner Betreuungsideologie lange Zeit den Wert
selbstbestimmter Tätigkeit mißachtet; auch in Richtung Zukunft wird es noch
erheblicher Anstrengungen bedürfen, um innerhalb der High-Tech-Strukturen den
alternativen Projekten die Anerkennung und Ausstattung zukommen zu lassen, wie
sie die Forderung auf „Parallelität” beinhaltet. Ein Klärungsprozeß müßte auf
beiden Seiten stattfinden: Die staatlichen und kommunalen Einrichtungen täten
gut daran, von der Phantasie und dem Ideenreichtum, der innovatorischen
Sensibilität und improvisatorischen Beweglichkeit, der zupackenden Spontaneität
und dem wagemutigen Konkretismus der „Alternativen” zu lernen. Diese wiederum
sollten bereit sein, ihre „Trotzhaltung” gegenüber der öffentlichen Hand
aufzugeben und bei partnerschaftlichen Modellen mitzuwirken. So wie die
öffentliche Finanzierung von Kultur die künstlerische Freiheit nicht
beeinträchtigen darf, muß auch die öffentliche Finanzierung
parallelgesellschaftlicher Unternehmen, Projekte, Einrichtungen darauf
ausgerichtet sein, deren Autonomie voll zu erhalten. Im Handeln müssen
Kooperationsformen entwickelt werden, welche die gegenseitige Skepsis
schrittweise abbauen helfen.
In der
frühen Gesellschaft bildet die Familie den Kern der „kooperativen
Struktur". Die Asymmetrie in den Beziehungen — auf der einen Seite die
anonymen Organisationen mit erheblicher Macht, auf der anderen die
Einzelpersonen mit zunehmender Wirkungslosigkeit (einhergehend mit dem Verlust
von Ich-Stärke) —, diese Verlagerung des Gewichts auf die Großsysteme hat auch die
Gemeinde als Umkreis der Familie zerstört, noch ehe sie die Familie selbst
bedrohte.
Die
asymmetrische Gesellschaft, so James S. Coleman, könnte „korrigiert” werden.
„Erforderlich ist eine Institution — oder ein Gefüge von Institutionen —, die
jene Funktionen übernimmt, die in der alten Struktur auf natürliche Weise
erfüllt werden, in der neuen aber fehlen. Kurz gesagt liegt die Aufgabe darin,
nicht die Eltern, aber die Familie und die Gemeinde zu ersetzen, die früher die
Eltern umgaben, sie unterstützten und die einen großen Teil der
Erziehungsaufgaben für Kinder und Jugendliche übernahmen.”