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Kapitel aus:
Milton
Friedman
Kapitalismus
und Freiheit
Piper,
München, Mai 2004
(Erstausgabe 1962 Chicago)
ISBN 3 492
23962 5
Seite 227 –
232
12 Maßnahmen
zur Bekämpfung der Armut
Das
außergewöhnliche wirtschaftliche Wachstum in den westlichen Ländern während der
letzten zweihundert Jahre und die weite Streuung der Vorzüge des freien
Wettbewerbs führten zu einer erheblichen Verringerung der Armut im absoluten
Sinn in den kapitalistischen Ländern des Westens. Armut ist jedoch zum Teil ein
relativer Begriff, und selbst in diesen Ländern leben offensichtlich viele
Menschen unter Bedingungen, die der Rest der Bevölkerung als Armut bezeichnet.
Eine
Abhilfe, und in vielerlei Hinsicht die wünschenswerteste, liegt in privater
Wohltätigkeit. Es ist bemerkenswert, dass in der Periode des Laissez-faire, in
der Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in den Vereinigten Staaten und
in Großbritannien private Hilfsorganisationen und wohltätige Einrichtungen eine
außergewöhnliche Verbreitung erfuhren. Einer der Hauptnachteile der Zunahme
öffentlicher Wohlfahrt lag in der gleichzeitigen Abnahme privater Aktivitäten
dieser Art.
Man mag
argumentieren, dass private Wohlfahrt unzulänglich sei, dass ihre Vorteile
anderen Menschen zugute kommen als denen, von denen die Zuwendungen stammen -
wieder ein Fall von Nebeneffekt. Der Anblick der Armut beunruhigt mich, ich
profitiere vom Abbau der Armut; ich profitiere jedoch gleichermaßen, wenn ich
selbst oder jemand anders den Abbau finanziert; die positiven Folgen der
Wohltätigkeit anderer Menschen kommen mir daher teilweise zugute. Um es anders
auszudrücken: Wir wären vielleicht allesamt dazu bereit, zur Beseitigung der
Armut beizutragen, vorausgesetzt, jeder beteiligte sich daran. Ohne eine
derartige Zusicherung würden wir vielleicht nicht den gleichen Betrag
aufbringen. In kleinen Gemeinden kann der Druck der Öffentlichkeit stark genug
sein, dieses Problem sogar in Bezug auf private Wohltätigkeit zu lösen. Dies
ist jedoch in den großen und unpersönlichen Gemeinden weitaus schwieriger.
Angenommen,
man akzeptiert diese Erwägungen als Begründung staatlicher Maßnahmen zur
Bekämpfung der Armut, so wie ich es tue; dies soll bedeuten, den Lebensstandard
jedes Individuums in der Gemeinschaft auf ein bestimmtes Mindestniveau
festzusetzen. Hierbei ergeben sich die Fragen der Form dieses Mindestniveaus
und der Mittel zur Erreichung des angestrebten Zieles. Das "Wieviel"
kann meines Erachtens einzig und allein von der Steuerlast abhängen, welche die
große Mehrheit unter uns für diesen Zweck zu tragen bereit ist. Das
"Wie" verlangt eine eingehendere Behandlung.
Zwei Dinge
sind offensichtlich. Erstens: Wenn das Ziel der Abbau der Armut ist, benötigen
wir ein Programm mit dem Zweck, die Armen zu unterstützen. Es gibt gute Gründe,
dem armen Mann, der Bauer ist, zu helfen, nicht, weil er Bauer ist, sondern
weil er arm ist. Das Programm sollte dazu eingerichtet sein, Menschen als
Menschen zu helfen und nicht als Mitglieder bestimmter Berufsgruppen oder
Altersgruppen oder Einkommensgruppen oder Gewerkschaften oder Industriezweige.
Dies ist in grenzenlos erscheinender Verbreitung der Fehler der Programme zur
Unterstützung der Landbevölkerung, allgemeiner Altersfürsorge,
Mindestlohngesetzgebung, Pro-Gewerkschafts-Gesetzgebung, Mindestlöhnen,
Lizenzzwang für bestimmte Handwerks- und Berufsgruppen usw. Zweitens sollte das
Programm zwar auf dem Markt funktionieren, dabei jedoch soweit irgend möglich
den Markt nicht stören und seine Funktionsweise nicht beeinträchtigen. Dies ist
ein Fehler von Preissubventionen, Mindestlohnsätzen, Fixtarifen und Ähnlichem.
Die
Maßnahme, die sich aus rein technischen Gründen anbietet, ist eine negative
Einkommensteuer. Derzeit besteht nach dem Bundeseinkommensteuergesetz ein
Steuerfreibetrag von 600 Dollar pro Person (plus einem Minimum von 10 Prozent
für absetzbare Sonderausgaben). Wenn eine Person ein steuerpflichtiges
Einkommen von 100 Dollar bezieht, d.h. ein Einkommen von 100 Dollar über dem
Steuerfreibetrag und den absetzbaren Sonderausgaben, zahlt sie dafür Steuern.
Nach meinem Vorschlag würde sie, wenn das Einkommen "minus" 100
Dollar betrüge, d.h. 100 Dollar weniger als der Steuerfreibetrag plus der
absetzbaren Sonderausgaben, negative Steuern bezahlen, also eine Zuwendung
erhalten. Wenn der Zuwendungssatz beispielsweise 50 Prozent wäre, würde sie in
unserem Beispiel 50 Dollar erhalten. Wenn sie überhaupt kein Einkommen bezöge
und aus Gründen der Einfachheit auch keine Sonderausgaben geltend machen
könnte, würde sie bei konstantem Zuwendungssatz 300 Dollar erhalten. Sie könnte
noch mehr erhalten, wenn sie zum Beispiel für Arztkosten etwas absetzen könnte,
sodass ihr Einkommen ohne Absetzbarkeit schon vor Abzug des Freibetrages
negativ wäre.
Die
Zuwendungssätze könnten selbstverständlich gestaffelt werden, wie das auch bei
den Steuersätzen bei Überschreitung des Freibetrags geschieht. Auf diese Weise
könnte eine Grundlage geschaffen werden, die im Einkommen des Einzelnen niemals
unterschritten werden könnte (Einkommen jetzt verstanden unter Zurechnung der
Zuwendung) - in unserem simplen Beispiel 300 Dollar pro Person. Die genaue Höhe
des Grundeinkommens hinge davon ab, was die öffentliche Hand aufbringen könnte.
Die Vorteile
dieser Maßnahme liegen offen auf der Hand. Sie ist speziell auf das Problem der
Armut ausgerichtet. Die Hilfe erfolgt hierbei in der für den einzelnen
nützlichsten Form, als Bargeld. Sie ist allgemein anwendbar und könnte anstelle
der Vielzahl der derzeitig angewendeten Sondermaßnahmen eingeführt werden. Sie
zeigt die Kostenbelastungen der Gesellschaft deutlich auf. Sie funktioniert
ohne Beeinflussung des Marktes. Wie jede Maßnahme gegen die Armut verringert
sie den Antrieb der Unterstützungsempfänger, sich selbst zu helfen, schließt
diesen Antrieb jedoch nicht völlig aus, wie das bei einem System der
Einkommensunterstützung bis zu einem festgelegten Minimum der Fall wäre. Jeder
zusätzliche Verdienst würde bedeuten, dass mehr Geld zum Ausgeben zur Verfügung
stünde.
Zweifelsohne
würden sich dabei verwaltungstechnische Schwierigkeiten ergeben; sie erscheinen
mir jedoch als relativ geringe Nachteile, wenn man sie überhaupt so nennen
kann. Das System würde genau in die Struktur unserer gegenwärtigen
Einkommensbesteuerung passen und würde die gleiche verwaltungstechnische
Behandlung erfordern. Das gegenwärtige Steuersystem umschließt den Großteil der
Einkommensempfänger und die Notwendigkeit, alle zu erfassen, hätte als Nebenwirkung
den Vorteil der Verbesserung der gegenwärtigen Einkommenssteuer. Wichtiger
noch: Wenn die vorgeschlagene Methode anstelle der augenblicklichen Unzahl von
Maßnahmen mit demselben Zweck eingeführt würde, käme dies einer spürbaren
Erleichterung der verwaltungstechnischen Belastung gleich.
Einige kurze
Berechnungen lassen überdies erkennen, dass der Vorschlag finanziell weitaus
billiger wäre und erst recht die erforderlichen Aufwendungen der staatlichen
Verwaltung vermindern würde, im Gegensatz zu unserer gegenwärtigen Ansammlung
von Wohlfahrtsmaßnahmen. Man kann diese Berechnungen auch als Beweis für die
Verschwendung bei den augenblicklichen Methoden vom Standpunkt ihres Sinns, den
Armen zu helfen, ansehen.
1961 wurden
zirka 33 Milliarden Dollar von der Regierung (auf Bundesebene,
Bundesstaatenebene und Gemeindeebene) für unmittelbare
Wohlfahrtsunterstützungen und Programme verschiedenster Art aufgewendet:
Altersunterstützung, Rentenauszahlung, Unterstützung minderjähriger Kinder,
Unterstützungen allgemeiner Art, Agrarmarktpreissubventionen, öffentlicher
Wohnungsbau usw. (1) Aus dieser Berechnung habe ich die Renten für pensionierte
Soldaten ausgelassen. Ferner habe ich nichts für solche Maßnahmen wie
Mindestlohngarantie, Fixtarife, Lizenzmaßnahmen usw. oder für die Kosten der
öffentlichen Gesundheitsfürsorge wie Staats- und Gemeindeaufwendungen für
Krankenhäuser, Nervenheilanstalten usw. und deren direkte und indirekte Kosten
angesetzt.
Es gibt in
den Vereinigten Staaten ungefähr 57 Millionen Verbrauchereinheiten
(Einzelpersonen und Familien). Die Aufwendungen in Höhe von 33 Milliarden
Dollar im Jahre 1961 hätten Barleistungen in Höhe von 6000 Dollar pro
Verbrauchereinheit für die 10 Prozent auf der untersten Einkommensstufe
ermöglicht. Zuwendungen in dieser Höhe hätten die Einkommen dieser
Verbrauchereinheiten über den Durchschnitt aller Einheiten in den Vereinigten
Staaten angehoben. Als Alternativlösung wären Zuwendungen in Höhe von 3000
Dollar pro Verbrauchereinheit für die 20 Prozent mit den geringsten Einkommen
möglich gewesen. Selbst bei Berücksichtigung des Drittels, das die Befürworter
des New Deal gern als schlecht ernährt, schlecht untergebracht und schlecht
angezogen bezeichnen, hätten die Ausgaben des Jahres 1961 Zuwendungen in Höhe von
2000 Dollar pro Verbrauchereinheit ermöglicht - das ist ungefähr die Summe, die
das Einkommen war, welches das untere Drittel in den Dreißigerjahren von den
oberen zwei Dritteln unterschied -, dies selbstverständlich unter
Berücksichtigung der Preisveränderungen seit dieser Zeit. Unter der gleichen
Berücksichtigung der Preisveränderungen seit den Dreißigerjahren hat heute
weniger als ein Achtel der Verbrauchereinheiten ein Einkommen, das so niedrig
wie das unterste Drittel während der Mitte der Dreißigerjahre liegt.
Dies sind
ganz eindeutig weitaus umfangreichere Maßnahmen, als sie selbst bei
großzügigster Auslegung des Begriffes "Bekämpfung der Armut" zu
rechtfertigen wären. Ein Programm, das die Einkommen der 20 Prozent
Verbrauchereinheiten mit den niedrigsten Einkommen unterstützen würde, um sie
auf die Höhe der niedrigsten Einkommen des Restes der Verbrauchereinheiten
anzuheben, würde weniger als die Hälfte dessen kosten, was wir derzeit
ausgeben.
Der
Hauptnachteil der vorgeschlagenen negativen Einkommensteuer liegt in ihren
möglichen politischen Folgen. Sie würde zu einem System führen, in dem einigen
Steuern auferlegt würden, um anderen Unterstützungen zu zahlen. Und
selbstverständlich sind diese anderen wahlberechtigt. Hierbei besteht die Gefahr,
dass anstelle eines Arrangements, bei dem die große Mehrheit sich freiwillig
selbst Steuerlasten auferlegt, um einer benachteiligten Minderheit zu helfen,
ein Arrangement entsteht, bei dem die Mehrheit einer unwilligen Minderheit
Steuerbelastungen zu ihren eigenen Gunsten auferlegt. Da dieser Vorschlag die
Prozedur so klar verdeutlicht, ist die Gefahr vielleicht im Vergleich zu
anderen Maßnahmen besonders groß. Ich sehe keine andere Lösung dieser Frage,
als auf die Zurückhaltung und die Gutwilligkeit der Wählerschaft zu vertrauen.
Bei der
Erwägung eines ähnlichen Problems - der Altersrenten in Großbritannien -
schrieb Dicey im Jahre 1914: "Sicherlich kann sich ein vernünftiger und
wohlmeinender Mensch fragen, ob es England als Ganzes zum Vorteil gereichen
wird, wenn der Rentner gleichzeitig mit dem Erhalt der Rentenunterstützung sein
Recht zur Teilnahme an der Wahl des Parlaments behält."(2)
Die Antwort,
die durch Erfahrung auf Diceys Frage gegeben wurde, muss bis zum heutigen Tage
als gemischt angesehen werden. England führte die allgemeine Wahl ohne
Ausschluss der Rentner und anderer Empfänger staatlicher Unterstützungen ein.
Es gab auch eine ungeheure Zunahme des Steueraufkommens von einigen zugunsten
von anderen, was sicherlich dem Wachstum Großbritanniens hinderlich gewesen ist
und auf diese Weise nicht einmal all denen zum reinen Vorteil gereichte, die
sich als Empfänger der Hilfe begreifen. Diese Maßnahmen haben jedoch nicht,
jedenfalls bis zum heutigen Tag, zur Zerstörung des freiheitlichen Systems in
Großbritannien oder seiner vorwiegend kapitalistischen Wirtschaftsstruktur
geführt. Und, was noch wichtiger ist, es gibt einige Anzeichen für einen
Gesinnungswandel und für das Aufkommen von Zurückhaltung seitens der
Wählerschaft.
Liberalismus
und Egalitarianismus
Das
Fundament der liberalen Philosophie ist der Glaube an die Würde des Einzelnen,
an seine Freiheit zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten in Übereinstimmung
mit seinen persönlichen Fähigkeiten mit der einzigen Einschränkung, dass er
nicht die Freiheit anderer Personen beschränke, das Gleiche zu tun. Dies
impliziert den Glauben an die Gleichheit der Menschen in einer Beziehung: ihrer
gegenseitigen Ungleichheit. Jeder Mensch hat das gleiche Anrecht auf Freiheit.
Dieses Recht ist wichtig und grundlegend, gerade weil die Menschen verschieden
sind, weil der eine etwas anderes mit seiner Freiheit anfangen wird als der
andere und dabei mehr als andere zu der allgemeinen Entwicklung der
Gesellschaft, in der viele Menschen leben, beitragen kann.
Ein
Liberaler wird daher genau zwischen gleichen Rechten und gleichen Möglichkeiten
auf der einen Seite sowie materieller Gleichheit und gleichen Resultaten auf
der anderen Seite unterscheiden. Er wird wahrscheinlich die Tatsache begrüßen,
dass die freiheitliche Gesellschaftsordnung mehr für die materielle Gleichheit
tut als irgendeine der vorherigen. Er sieht dies jedoch als ein erfreuliches
Nebenprodukt der freiheitlichen Gesellschaftsordnung und nicht als ihre
Hauptberechtigung an. Er wird Maßnahmen zur Verstärkung von Freiheit und
Gleichheit begrüßen - wie zum Beispiel die Einschränkung oder Ausschaltung von
Monopolen und die Verbesserung der Struktur des freien Marktes. Er sieht
private Hilfsmaßnahmen zur Unterstützung der Benachteiligten als ein Beispiel
für die richtige Verwendung der Freiheit an. Er wird auch Regierungsmaßnahmen
zur Verringerung der Armut als wirkungsvolle Möglichkeit für die große Mehrzahl
der Allgemeinheit zur Verfolgung eines gemeinsamen Zieles erachten. Dabei wird
er jedoch die Einführung von Zwangsmaßnahmen anstelle freiwilliger Maßnahmen
bedauern.
Der egalitär
Eingestellte wird diese Ansichten teilen. Er wird jedoch noch weiter gehen
wollen. Er wird sich für Maßnahmen aussprechen, bei denen den einen genommen
wird, um den anderen zu geben, und zwar nicht als wirkungsvollere Maßnahme für
"einige", ihr erstrebtes Ziel zu erreichen, sondern aufgrund der
"Gerechtigkeit". Hier gerät das Prinzip der Gleichheit in direkten
Konflikt zum Prinzip der Freiheit - man muss eine Wahl treffen. Man kann nicht
in dieser Form zugleich egalitäre und liberale Ansichten verfechten.
(1) Diese
Zahl ergibt sich aus Regierungszahlungen (31,1 Mrd. Dollar) abzüglich der
Zuwendungen an pensionierte Soldaten ($ 4,8 Mrd.), die aus der Einkommensstatistik
des Department of Commerce hervorgehen, plus der Bundesaufwendungen für das
Landwirtschaftsprogramm ($ 5,5 Mrd.), plus Bundesausgaben für den öffentlichen
Wohnungsbau und andere Formen von Wohngeldunterstützung ($ 0,5 Mrd.) für das
Jahr bis zum 30. Juni 1961, nach Unterlagen des Finanzministeriums, sowie einer
geschätzten Mehrsumme von $ 0,7 Mrd. zur Aufrundung auf gerade
Milliarden-Zahlen und zur Anrechnung für Verwaltungskosten von
Bundesprogrammen, ausgelassene Programme auf Bundesstaatenebene und auf
Kommunalebene sowie verschiedene Posten. Ich glaube, dass die Zahl eine
beträchtliche Unterschätzung darstellt.
(2) A.V Dicey, Law and Public Opinion in England, 2.
Aufl. London: Macmillan, 1914, S. XXXV