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Text aus:
Andre Gorz:
Wege ins
Paradies
Rotbuch
Verlag Berlin
16. – 19.
Tausend 1984
ISBN 3 88022
2797
Seite 66 bis
76
IV. Ausweg
aus dem Kapitalismus
17. Die Idee
des Einkommens auf Lebenszeit: die 20.000 Stunden
Das Recht
auf Einkommen, das nicht vom Besitz eines Arbeitsplatzes abhängt, ist also
nicht an sich schon eine Garantie für die Freiheit; Gleichheit und Sicherheit
der Individuen: Es verträgt sich durchaus mit einer elitistischen Technokratie
und / oder einer totalitären Kontrolle sogar über das intime Verhältnis jedes
einzelnen zu sich selbst.
Die
Beseitigung der Arbeit ist an sich noch keine Befreiung. Ihrem Wesen nach kann
die Freiheit nicht das Ergebnis eines technologischen Wandels sein: sie kann
keine Wirkung sein, deren Ursache Maschinen wären. Die Maschinen können
lediglich neue materielle Bedingungen schaffen. Diejenigen Maschinen, die die
Automatisierung hervorbringt, werden - entsprechend dem gesellschaftlichen und
politischen Entwurf der ihrem Einsatz zugrunde liegt - die Entfaltung der
Person begünstigen oder behindern. Die Garantie eines von einem Arbeitsplatz
unabhängigen Einkommens wird nur dann Freiheit bringen, wenn sie einhergeht mit
dem Recht jedes einzelnen auf Arbeit: das heißt auf die Erzeugung von
Gesellschaft, auf die Erzeugung von gesellschaftlich wünschenswerten
Reichtümern und auf die freie Kooperation mit anderen bei der Verfolgung
eigener Ziele.
Die Garantie
eines vom Arbeitsplatz unabhängigen Einkommens kann emanzipatorisch oder
repressiv, linker oder rechter Prägung sein, je nachdem ob sie den Individuen
neue Räume individueller und gesellschaftlicher Tätigkeit öffnet oder im
Gegenteil nur der gesellschaftliche Lohn für ihre erzwungene Untätigkeit ist.
a) Die Idee
eines garantierten Einkommens auf Lebenszeit hat Anhänger sowohl bei der
Rechten wie bei der Linken. Sie ist so alt wie die industrielle Revolution
selbst: sie wurde gemäß der „Konvention von Speenhamland“ im England von 1820
in einer Form in die Praxis umgesetzt, die man aufgrund ihrer perversen
Auswirkungen schnell aufgegeben hat. Sie wurde in England in verschiedenen
Formen erneut aufgegriffen, insbesondere durch das Social Credit Movement
zwischen 1920 und 1930 (1), dann in den Vereinigten Staaten unter Nixons
Präsidentschaft von den Senatoren Humphrey und Hawkins, deren Gesetzesvorschlag
mit knapper Not verworfen wurde. (2)
Für ihre
konservativen Befürworter (darunter Milton Friedman) haben die Garantie eines
Minimaleinkommens auf Lebenszeit sowie dessen Verteilung in Form einer
negativen Einkommenssteuer vor allem den Vorteil administrativer Vereinfachung.
Die negative Einkommenssteuer soll es ermöglichen, eine komplexe Vielfalt von Zuschüssen,
Beihilfen und Entschädigungen zu beseitigen, die jeweils verschiedenen
administrativen Prozeduren unterliegen (Wohngeld, Familienbeihilfe,
Hausfrauenzulage, Altersminimum, Armenunterstützung, Arbeitslosengeld usw.);
diese vielfältigen Zahlungen könnten durch ein einheitliches System ersetzt
werden: oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze zahlt man dem Fiskus
Steuern, unterhalb dieser Grenze wird man vom Fiskus bezahlt. Dieses System
kann erhebliche Einsparungen ermöglichen, sofern es die Beihilfen und Zuschüsse
für diejenigen Haushalte streicht, die über dem Existenzminimum liegende
Einnahmen haben. Das Hauptziel der Einkommensgarantie in ihrer konservativen
Version besteht demnach nicht darin, Hilfsbedürftigkeit und Arbeitslosigkeit
abzuschaffen, sondern sie zu dem für die Gesellschaft niedrigsten Preis sozial
erträglich zu machen. Deren dualistische Schichtung wird dadurch unvermeidbar
erhalten und sogar verstärkt.
b) In ihrer
linken Konzeption gehorcht die Garantie eines vom Arbeitsplatz unabhängigen
Einkommens einer radikal anderen Logik. Sie präsentiert sich nicht als
Arbeitslosensalär oder mildtätige Unterstützung derjenigen, die die
Gesellschaft marginalisiert. Sie ist im Gegenteil das jedem Bürger zukommende
Recht, auf sein ganzes Leben verteilt das Produkt des nicht weiter
reduzierbaren Quantums an gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu erhalten, die
er im Lauf seines Lebens zu erbringen hat.
Es sieht
kaum so aus, als würde dieses Quantum gegen Ende des Jahrhunderts 20.000
Stunden überschreiten (3); in einer egalitären Gesellschaft, die für eine
weniger wettbewerbsorientierte und entspanntere Lebensweise optiert, könnte es
sogar noch wesentlich geringer sein. (4) Nun bedeuten aber 20.000 Stunden pro
Leben zehn Jahre Vollzeitarbeit oder zwanzig Jahre Teilzeitarbeit oder - weit
plausibler - vierzig Jahre unregelmäßige Arbeit, wobei Halbzeitperioden,
Urlaubsperioden oder Perioden unbezahlter autonomer Tätigkeit oder unbezahlter
Tätigkeit in einer Arbeitsgemeinschaft usw. einander abwechseln.
In den
folgenden Paragraphen werde ich die technischen Probleme und ideologischen
Einwände erörtern, die eine solche flexible Aufteilung eines verringerten
Arbeitsquantums über einen langen Zeitraum aufwerfen kann. Worauf es im Augen
blick ankommt, ist, daß die gesellschaftlich nützliche Arbeit keine
Vollzeitbeschäftigung, auch nicht der Hauptpol im Leben des einzelnen mehr sein
kann. Das Leben wird multipolar sein müssen, wie die Gesellschaft selbst. Eine
Pluralität von Produktionsweisen sowie verschiedene Lebensweisen und -rhythmen
werden nebeneinander bestehen, wobei jedes Individuum sich in mehreren
Dimensionen entfaltet und seinem Leben durch den Übergang von der einen zur
anderen Rhythmus gibt. Die Lohnarbeit wird aufhören, die Haupttätigkeit zu sein,
aber durch das Einkommen, das sie jedem Einzelnen sein Leben lang garantiert,
wird sie die ökonomische Basis einer unbegrenzten Vielfalt möglicher
Tätigkeiten bleiben, deren Rationalität und Ziel nicht ökonomisch sind. Wir
kommen darauf zurück.
18. Auf dem
Weg zur Abschaffung der Lohnarbeit: das Sozialeinkommen
In dieser
Perspektive und gemäß der ursprünglichen Vision der sozialistischen Bewegung
erscheint die lebenslängliche Einkommensgarantie nicht mehr als Entschädigung,
Beihilfe oder staatliche Betreuung des Individuums, sondern als die
gesellschaftliche Form, die das Einkommen annimmt, wenn die Automatisierung
nicht nur den ständigen Zwang zur Arbeit, sondern auch das Wertgesetz und die
Lohnabhängigkeit selbst abgeschafft hat. Die Produktion des Notwendigen
erfordert ein so geringes Quantum an Arbeit, daß keiner leben könnte, wenn er
nur für die Stunden bezahlt würde, in denen er eine effektive Arbeit leistet.
Umgekehrt wird die steigende Produktion, mit abnehmendem Arbeitsaufwand
realisiert, nur dann verteilt werden können, wenn sie eine Schaffung und
Verteilung von Zahlungsmitteln zuläßt, die dem Volumen der Produktion und nicht
dem Wert der aufgewandten Arbeit entspricht. (5)
Das garantierte Einkommen kann also nicht mehr auf dem
"Wert" der Arbeit gründen (das heißt auf dem Konsum, den das
gesellschaftliche Individuum braucht, um die Kräfte wiederherzustellen, die es
bei der Produktion der Waren verausgabt), noch als Bezahlung der Anstrengungen
konzipiert werden. Seine wesentliche Funktion besteht darin, an alle Mitglieder
der Gesellschaft den Reichtum zu verteilen, der aus den Produktivkräften der
Gesellschaft insgesamt und nicht aus der Addition individueller Arbeiten
resultiert. Es gilt nicht mehr das Prinzip "Jedem nach seinen Leistungen";
jetzt muß - nach dem Ausdruck, den Marx in der Kritik des Gothaer Programms
verwendet - das Prinzip "Jedem nach seinen Bedürfnissen" Produktion
und Austausch regeln. (6) Um das Recht jedes Menschen auf Zugang zum
gesellschaftlichen Reichtum zu bezeichnen, den zu schaffen er durch seine
unregelmäßige Arbeit beiträgt, sind die Termini " Soziallohn",
"Sozialdividende" und "Sozialeinkommen" gleichermaßen
legitim. (7)
Die Zahlung
eines "Sozialeinkommens", das nicht mehr die Bedürfnisse des
Arbeiters, sondern des Bürgers deckt, wird schon jetzt von Tarifverträgen oder
Institutionen angedeutet, die potentiell den Übergang zu einer
postkapitalistischen und postsozialistischen Logik einleiten. Vor allem der
schwedische Ökonom Gösta Rehn (8) hat einer Definition der Lebensarbeitszeit
den Weg bereitet, bei der für jeden die Möglichkeit besteht, in jedem Alter
Vorschüsse auf seine Rente zu nehmen, vorausgesetzt, er respektiert gewisse
Quoten.
Rehns
Vorschlag wurde von Gunnar Adler-Karlsson verfeinert und in gewisser Hinsicht
ins Gegenteil verkehrt. (9) Während für Rehn jeder einzelne mit einem
Zeitkapital geboren wird, aus dem er zeit seines Lebens schöpfen kann, sofern
er bestimmte Quoten beachtet, wird für Adler-Karlsson jeder mit einer Schuld
gegenüber der Gesellschaft geboren, die er im Laufe seines Lebens zu frei
gewählten Zeitpunkten in Arbeitsstunden zurückzahlt, auch hier unter Beachtung
bestimmter Quoten. Dafür garantiert ihm die Gesellschaft ein Einkommen auf
Lebenszeit. Natürlich steht es jedem frei, mehr zu arbeiten und mehr zu
verdienen als den geschuldeten Betrag, den er zurückzuzahlen hat. Umgekehrt
kann sich jeder auch dafür entscheiden, nur den Betrag den er schuldet,
abzuarbeiten, indem er jährlich die minimale Stundenzahl leistet, die ihm Recht
auf das garantierte Einkommen gibt. Alle Möglichkeiten, der Gesellschaft
Stunden vorzustrecken und von ihr zu leihen – also vorzeitig zurückzuzahlen
oder eine zusätzliche Schuld einzugehen -, bleiben vorstellbar. Je nach der
Konjunktur und den Bedürfnissen der Gesellschaft werden die Bürger angeregt,
Arbeitszeit zu verleihen oder zu entleihen.
Die
antizyklische Funktion der Arbeitsanleihen und –darlehen steht bei Rehn im
Mittelpunkt; während Adler-Karlsson, ein noch radikalerer Neuerer, vor allem
darauf bedacht ist, jedem immer die Wahl zwischen mehreren Lebensweisen zu
lassen: der Bedarf an Geld oder im Gegenteil an Zeit, die Bedeutung, die der
Lohnarbeit oder im Gegenteil den Freizeittätigkeiten beigemessen wird, können
bei ein und derselben Person je nach ihrem Lebensalter, der Zahl und dem Alter
ihrer Kinder, ihren späten oder frühen Begegnungen und Entdeckungen usw. stark
variieren.
Dennoch hat
der Bruch mit dem Wertgesetz - und mit der produktivistischen Logik, sei sie
kapitalistisch oder sozialistisch - bei den beiden schwedischen Autoren keinen
expliziten Charakter. Die Garantie eines lebenslänglichen Einkommens hat bei
ihnen eher die Form eines aufgeschobenen Lohns oder eines Vorschusses auf den
künftigen Lohn als die des Sozialeinkommens. Zu ihrer Finanzierung scheinen sie
denselben Mechanismus ins Auge zu fassen, nach dem die Pensionskassen,
Krankenkassen oder Arbeitslosenkassen arbeiten: das heißt Beiträge oder
Gebühren, die sich nach dem Lohn bemessen und an die Arbeiter umverteilt
werden, die zeitweilig oder endgültig ihre Erwerbstätigkeit beenden.
In dieser
Konzeption bleibt also implizit die Vergütung der Arbeit das Wesentliche: der
aufgeschobene oder vorgezogene Lohn, den jeder in den Zeiten seiner
Nicht-Arbeit bezieht, erscheint als eine Sparleistung aus dem vergangenen Lohn
oder als eine Anleihe auf den künftigen Lohn. Jeder wird in den Zeiten seiner
Nicht-Arbeit als Arbeiter bezahlt und nicht als Bürger.
Diese
Konzeption hat einen großen Nachteil: aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung
verbietet sie es, die logischen Konsequenzen des Prozesses der
Arbeitsbeseitigung zu Ende zu denken. Denn in dem Maße, wie die jährliche
Lebensarbeitszeit abnimmt, hat die Höhe der für die Bezahlung der Nicht-Arbeit
bestimmten Beiträge oder Gebühren die Tendenz, die Höhe des direkten Lohns zu
überschreiten. Die Bezahlung der Zeit der Nicht-Arbeit gewinnt schließlich die
Oberhand über die der Arbeitszeit. Es wird unmöglich, so zu argumentieren, als
würde die erste von der zweiten abgeschöpft. Tatsächlich bricht das Grundpostulat
des Industriekapitalismus zusammen. Dieses Postulat - auf dem der Begriff des
"Werts" gründet und von dem sich das "Wertgesetz"
herleitet, das bei Marx als die tragende Säule der kapitalistischen
Rationalität erscheint - lautet, daß der Lohn die Arbeit nach den Bedürfnissen
vergütet, die sie einzig bei denen erzeugt, die sie leisten. Faktisch sind es
nun aber nicht mehr die Arbeit und die Arbeiter, sondern das Leben und die
Bürger, die bezahlt werden müssen. Sobald die Arbeit der Individuen aufhört,
die Hauptquelle des Reichtums zu sein, können ihre Bedürfnisse nur dann
eingelöst und die Produkte nur dann verteilt werden, wenn die Produktion zu
einer Verteilung von Zahlungsmitteln führt, die von dem Arbeitsquantum, das sie
verlangt, unabhängig ist. Aus der Automatisierung der Produktion folgt
notwendig das Erlöschen der Lohnarbeit, der Marktmechanismen und des
Arbeitswerts; und es ist implizit mit der Idee einer Lebensarbeitszeit
verbunden und in der Idee der Einkommensgarantie auf Lebenszeit enthalten.
Sobald das Wesentliche der gesellschaftlichen Produktion nicht aus der Arbeit
der Individuen, sondern aus der Leistungsfähigkeit der eingesetzten Mittel
resultiert - Mittel, die selbst nur ein geringes Quantum direkter Arbeit
erfordern (10) -, läßt sich das "Recht auf Arbeit" nicht mehr mit dem
Recht auf lohnabhängige Beschäftigung vermengen; es muß einerseits zum Recht
des Bürgers auf ein lebenslängliches Einkommen werden, das dessen Anteil am
gesellschaftlich produzierten Reichtum darstellt, und andererseits muß es das
Recht des Zugangs zu denjenigen Mitteln sein, mit denen die gesellschaftlich
nicht programmierbaren Güter entworfen und hergestellt werden - jene Güter die
man außerhalb des Marktes, auf der Ebene der basisgenossenschaftlichen Gemeinschaften
oder Vereine benutzen, konsumieren, austauschen will. Dies ist der Bereich der
autonomen Tätigkeiten. Wir werden darauf zu rückkommen.
19. Übergang
zum Sozialeinkommen
In
technischer Hinsicht stellt die Finanzierung des Einkommens auf Lebenszeit kein
neues Problem und setzt keine Stärkung des Zentralstaats voraus. Am besten
erfolgt sie durch eine Besteuerung der automatisierten Produktionen. Die
japanische Arbeitgeberschaft hat im Jahre 1983 vorgeschlagen, daß die Roboter
Gewerkschaftsbeiträge zahlen sollen. Es ist weniger absurd, sie pro
Produkteinheit eine Sozialabgabe zahlen zu lassen, die, entsprechend der
Mehrwertsteuer, differenziert wird, nach Maßgabe des Konsummodells, das man zu
fördern gedenkt.
Eine solche
differenzierte Besteuerung hätte also eine doppelte Funktion. Einerseits stockt
sie den Sozialfond auf, der zur Finanzierung des garantierten Einkommens auf
Lebenszeit dient. Andererseits bremst sie den ständigen Rückgang des relativen
Preises der materiellen oder immateriellen Güter, deren Produktion sich am
raschesten automatisieren läßt, aber deren unaufhörlich steigender Konsum
gesellschaftlich weder sinnvoll noch wünschenswert, ja nicht einmal möglich
ist.
In dem Maße,
wie die Gestehungskosten der automatisierten Produktionen sinken, wird deren
Besteuerung folglich das System der Marktpreise durch ein System des
politischen Preises ersetzen. Tatsächlich handelt es sich hier um eine
Ausweitung der Praktiken, die in den modernen Ökonomien bereits angewandt
werden und die allesamt das System der Marktpreise durch ein Spiel von Steuern
(auf Alkohol, Tabak, Benzin, Autos usw.) und Subventionen (für öffentliche
Dienste, landwirtschaftliche Produktionen, Theater usw.) korrigieren. Wenn die
Gestehungskosten der automatisierbaren Produktionen die Tendenz haben,
irrelevant zu werden, und ihr Warentauschwert zusammenzubrechen droht, muß sich
die Gesellschaft unvermeidlich ein System des politischen Preises schaffen, das
ihre Entscheidungen und ihre Prioritäten im Bereich des individuellen wie des
kollektiven Konsums widerspiegelt. So wie das Verschwinden des Wertgesetzes ist
das Verschwinden der Marktgesetze (wie Marx in den Grundrissen nachgewiesen
hat) eine unvermeidbare Folge der Automatisierung. Es ist also besser, offen
mit dem Kapitalismus zu brechen, als durch allerlei Tricks seinen äußeren
Schein zu verewigen.
Was die
Strategie der sozialen Kämpfe betrifft, so wird der Übergang zu einer
postkapitalistischen Ökonomie potentiell durch die Tarifverträge vorgezeichnet,
die voraussehen, daß die Fortschritte der Arbeitsproduktivität zu einer
entsprechenden Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbuße führen werden. Anders
gesagt, die abgeschaffte Arbeit wird ebenso vergütet wie die geleistete Arbeit,
der Nicht-Arbeiter ebenso wie der Arbeiter. Vergütung und Leistung von Arbeit
sind voneinander abgekoppelt. Genau das ist der Inhalt einiger, insbesondere
von der APEX unterzeichneter Betriebsvereinbarungen in der britischen
Elektronikindustrie und auch des Tarifvertrags der New Yorker Docker. Dieser letztere
garantiert die Sicherheit des Arbeitsplatzes durch Verteilung der anfallenden
Arbeitsmenge auf die Gesamtzahl der Docker. In dem Maße, wie diese Menge
abnimmt, nimmt auch die Arbeitszeit ab, während der Lohn in keinem Fall den
einer 30-Stunden-Woche unterschreiten darf.
Dieser
Vertragstypus läßt sich freilich in einem kapitalistischen System nicht
verallgemeinern. Seine Ausdehnung auf die Gesamtheit der Bevölkerung kann nicht
aus einer bloßen Aufeinanderfolge von gewerkschaftlichen Kämpfen und Branchenvereinbarungen
resultieren, auch wenn sie diese voraussetzt. Denn die
Produktivitätsfortschritte unterscheiden sich sehr stark von einer Branche zur
anderen und sogar, innerhalb einer Branche, von einem Betrieb zum andern. Die
Index-Ausrichtung der Arbeitszeit auf die Arbeitsproduktivität (bei
gleichbleibendem Lohn) würde zu starken Disparitäten führen, die - da die
Beschäftigtenzahl in jeder Branche eingefroren ist - ungeheure korporative
Privilegien nach sich ziehen würde.
Außerdem
sind die Produktivitätsfortschritte nicht spontan: sie gehorchen immer einem
äußeren Zwang. Sie führen nicht spontan zu einer möglichen
Arbeitszeitverkürzung und einer neuen Aufteilung der Arbeit. Das tun sie nur
dann, wenn sie zu diesem Zweck realisiert und von einer neuen Arbeitsorganisation
begleitet werden, die flexible Zeitpläne beinhaltet. (11) Die Entwicklung der
Produktivität läßt sich also in keinem Fall als unabhängige Variable
betrachten, der die Entwicklung der Arbeitszeit und der Beschäftigtenzahl
untergeordnet werden könnte. Im Gegenteil, es geht darum, die Aufteilung der
Arbeit und die Verkürzung der Arbeitszeit als unabhängige Variable und
gesellschaftlichen Zwang zu programmieren, indem man den entsprechenden
Zeitplan im Licht der realisierbaren Produktivitätsgewinne im voraus festlegt.
Die Organisation der Produktion wird sich diesem äußeren Zwang anpassen, so wie
sie sich an die Einführung der Sonntagsruhe, das Verbot der Kinderarbeit, das
Gewerkschaftsrecht, die Krankenversicherung usw. angepaßt hat, lauter Dinge,
die zunächst als unrealisierbar galten.
Eine
allgemeine Arbeitszeitverkürzung mit garantiertem Einkommen setzt also in
erster Linie den Willen zu einer gesellschaftlichen Veränderung voraus, deren
Instrumente eine entsprechende Arbeitszeit- und Beschäftigungspolitik, aber
auch die gewerkschaftliche Aktion sowie die Planungsorgane sein werden.
Insbesondere setzt sie ein Zentrum der Prognose, Planung und
Informationssammlung voraus. Ständige Verlagerungen von Arbeitskräften aus den
Tätigkeitsbereichen, in denen die Automatisierung rasch verläuft, in solche, in
denen sie langsamer erfolgt; eine überschaubare, unmittelbar allen zugängliche
Arbeitsvermittlungsstelle mit der Möglichkeit, seine Arbeit mit einer oder
mehreren anderen Personen zu tauschen oder zu teilen; eine hohe berufliche
Vielseitigkeit und Mobilität: die Arbeiter müssen mühelos von einer Tätigkeit
mit schnell wachsender Produktivität zu einer anderen mit geringerer
Produktivität überwechseln können - oder auch, je nach der Jahreszeit, verschiedene
Tätigkeiten ausüben können. Die Gleichgültigkeit gegen den Inhalt der Arbeit
und deren Natur hat dann wieder den positiven Sinn, den Marx ihr in den
Grundrissen zuschrieb. Nur eine Gesellschaft, in der jeder eine breite,
vielseitige gesellschaftliche Qualifikation hat, kann die größtmögliche Zahl
banalisierter und austauschbarer Arbeiten auf die größtmögliche Zahl von
Personen verteilen.
20.
Banalisierte Arbeit, geteilte Arbeit
Die
Banalisierung der Berufe - eine Folge der Vergesellschaftung des
Produktionsprozesses - ist die Voraussetzung, unter der sich die
gesellschaftlich notwendige Arbeit fortdauernd auf die breiteste Bevölkerung
verteilen und umverteilen läßt. Nur unter dieser Voraussetzung können alle
arbeiten, und zwar immer weniger, je effizienter die Techniken werden. Wenn die
Techniken die Tendenz haben, das Quantum an notwendiger Arbeit sehr stark und
sehr schnell zu verringern, wird deren Banalisierung immer dringlicher. Denn
nur sie kann verhindern, daß eine Minderheit von Fachkräften die abnehmende
Menge der erforderlichen Arbeiten in Beschlag nimmt, sich zur technokratischen
Kaste der allein Kompetenten aufwirft und die Mehrheit der Bevölkerung zur
Marginalität und Abhängigkeit verurteilt.
(1) Von
Major C. H. Douglas gegründet, hat das Social Credit Movement noch heute
Anhänger in der liberalen Technokratie Großbritanniens, Kanadas und
Neuseelands. Siehe Keith Roberts, Automation, Unemployment and the
Distribution of Income, European Center of Work and Society, Maastricht 1982.
(2) Siehe OCDE, L'import négatif sur le revenu, Paris
1974.
(3) Eine
jährliche Arbeitszeitverkürzung um durchschnittlich 3 % würde bis Ende des
Jahrhunderts zu weniger als 900 Arbeitsstunden im Jahr führen. Ohne
systematische Arbeitszeitverkürzungen würden, nach den jüngsten Berechnungen
des japanischen Außenhandelsministeriums (MITI), 3 % Produktivitätszuwachs bei
2 % Wirtschaftswachstum zu einer Arbeitslosenquote von offiziell 16 und real 32
% im Jahre 1990 führen.
(4) Sie könnte schon von jetzt an nur noch 20.000 Stunden
betragen, falls die Bürger der achtziger Jahre die Möglichkeit hätten, für das
Konsumniveau der sechziger Jahre zu optieren. Die Arbeitszeit der berufstätigen
Bevölkerung beträgt heute (unter Berücksichtigung der verschiedenen Urlaubsregelungen,
der partiellen oder totalen Arbeitslosigkeit, der Bildungslehrgänge usw.) etwa
40.000 Stunden pro Leben bei einem verfügbaren Durchschnittseinkommen von
monatlich 11.000 Francs pro Haushalt (1980).
(5) Die
Anpassung der produzierten Mengen an den Bedarf kann demnach nicht mehr mit
Hilfe der "Marktmechanismen" erreicht werden: der tatsächliche Bedarf
sowie der Stand der Produktion müssen (wie übrigens heute schon in allen
öffentlichen Diensten) durch Untersuchungen und Planung bestimmt werden. Das
Schwinden der Marktlogik geht notwendig mit dem des Wertgesetzes einher.
(6) In der
Marxschen Terminologie bezeichnet dieses Prinzip die kommunistische
Gesellschaft, die sowohl die Vollendung wie das Jenseits der sozialistischen
Gesellschaft ist.
(7) Der
Terminus "Soziallohn" wurde Ende der sechziger Jahre in Italien von
der außergewerkschaftlichen extremen Linken geprägt. Das britische Social
Credit Movement der zwanziger Jahre sprach von einer
"Sozialdividende", um deutlich zu machen, daß jeder Bürger
Miteigentümer des ungeteilten Produktionsapparats ist. Der Terminus
"Sozialeinkommen" (revenu social) wurde Anfang der dreißiger Jahre
von Jacques Duboin geprägt, dessen Bewegung für eine distributive Wirtschaft
das am weitesten entwickelte gesellschaftliche und institutionelle Modell zur
Überwindung der Warenbeziehungen vorschlug. Die Schriften von Jacques Duboin
sind noch verfügbar bei La Grande Relève, 88, bd. Carnot, 78110 Le
Vésinet.
(8) Siehe besonders G. Rehn, "For Greater
Flexibility of Working Life", OECD Observer, Nr. 62, Februar 1973, und
Towards a Society of Free Choice, Swedish Institute For Social Research, 1978.
(9) Gunnar Adler-Karlsson, "The Unimportance of
Full Employment", englische Zusammenfassung in IFDA Dossier 2, November
1978, Fondation internationale pour un autre developpement, Nyon (Schweiz), aus
Tanakar om den fulla sysselsättningen, Stockholm 1977.
(10) Ich
paraphrasiere die Grundrisse, S. 592.
(11) Siehe
zu diesem Thema das hochinteressante Werk eines Betriebswirtes: J.-L. Michau,
L'horaire modulaire, Masson/Institut de l’entreprise, 1981.