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Text veröffentlicht als:

Das Ende der Bescheidenheit: Existenzgeld, eine Forderung von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen,

in: Gerntke, A. / Rätz, W. / Schäfer, C. u.a.:

Einkommen zum Auskommen.

Von bedingungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen und anderen Verteilungsfragen,

Hamburg 2004

 

 

 

 

 

Harald Rein

Das Ende der Bescheidenheit....

Existenzgeld, eine Forderung von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen

„Es gibt noch was anderes als Arbeit, Arbeit, Arbeit!“

(Dieter Schulte auf die Frage ob er noch mal für den DGB-Vorsitz kandidieren würde)

 

„Es gibt keine wirklich vernünftige Alternative zur Agenda 2010“, so lautet die Leitlinie, die Bundeskanzler Schröder für seine Partei und deren Sympathisanten ausgab. Während Parteifunktionäre, Werbestrategen und Pressepostillen diese Parole vor Ort übersetzten, erfuhren die ersten Betroffenen, was es heißt, der Agenda 2010 ausgesetzt zu sein: Sie verloren ihren Anspruch auf Leistungen nach dem Arbeitslosenrecht, weil sie plötzlich zu viel Vermögen hatten (die Vermögensfreigrenze wurde radikal eingeschränkt), ihr Partner/ihre Partnerin zu viel Geld verdienten (das Partnereinkommen wurde, im Gegensatz zu früher, vollständig angerechnet), oder sie der Verfolgungsbetreuung ausgesetzt waren. Über 500 000 LeistungsbezieherInnen fielen so bereits aus dem Leistungsbezug, ohne in den „Genuss“ von Arbeitslosengeld II ab Januar 2005 zu gelangen.

Diese „Grundsicherung für Arbeitslose“ hat mit einer grundlegenden materiellen Absicherung von Arbeitslosen bzw. SozialhilfebezieherInnen nicht das Geringste zu tun. Leistungskürzungen, Ausbau des bürokratischen Repressionsapparates, Leistungsausschluss und Zwang zur Niedriglohnarbeit bis hin zu öffentlichen Zwangsdiensten erwartet Langzeitarbeitslose und erwerbsfähige SozialhilfebezieherInnen im nächsten Jahr.

Und dies alles soll alternativlos sein?

Eine der weitreichendsten Alternativvorstellungen zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut sowie gegen den Ausbau autoritärer Staatsstrukturen stammt aus dem Erfahrungsschatz von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen. Es firmiert unter dem Namen Existenzgeld und ist ein Synonym für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Bereits auf dem 1. Bundeskongress der Arbeitslosen 1982 in Frankfurt entbrannte eine heftige Auseinandersetzung zwischen den meist sozialdemokratisch oder gewerkschaftlich orientierten VertreterInnen eines „Rechtes auf Arbeit“ gegenüber dem „Recht auf Einkommen“ („1500 DM für Alle“), das von unabhängigen Erwerbslosen- und Jobberinitiativen (JobberInnen damals sind im weitesten Sinne mit prekär Beschäftigten heute zu vergleichen) zur Diskussion gestellt wurde. Für die StreiterInnen dieser Forderung bedeutete das „Recht auf Arbeit“ eine Lohnarbeit um jeden Preis (man beachte die heute noch brutalere Realität, „Recht auf Arbeit“ heißt ein Recht auf irgendeine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung und ohne Sozialversicherungsschutz). Sie erkannten zu diesem Zeitpunkt bereits, dass die herrschende ökonomische Produktivitätsentwicklung einer möglichen existenzsichernden Vollbeschäftigung objektive Grenzen setzt. Und sie diskutierten einen Arbeitsbegriff, der sich vom Korsett der Lohnarbeit befreien sollte.

“ Offenbar ist Arbeit nur dann Arbeit, wenn sie Profit einbringt und systemstabilisierend ist. Wir müssen unserer Meinung nach neu darüber nachdenken, was wir, wie wir und unter welchen Bedingungen wir produzieren wollen ... Wir sollten unseren neuen Begriff von Arbeit auch politisch offensiv vertreten. Wenn Umweltschützer die Startbahn West verhindern, dann ist das Arbeit; wenn "Arbeitslose" sich in Arbeitsloseninitiativen zusammenschließen, dann ist das Arbeit; wenn Hausfrauen einen Fleischboykott organisieren, für mehr Kindergartenplätze demonstrieren, ist das Arbeit. Nur - und das ist das Dilemma - dafür kriegen wir keine Knete... Sollten wir deshalb aus dem Reich dieser Ideen wieder auf den Boden der unerfreulichen Tatsachen herabsteigen?"(1.Bundeskongress der Arbeitslosen,

 S. 142/143)

Aus „dem Reich dieser Ideen“ entwickelte eine bundesweite Arbeitsgruppe der organisierten Arbeitsloseninitiativen den Vorschlag für ein Existenzgeld, als Alternative zu den bestehenden sozialen Sicherungssystemen. Die „13 Thesen gegen falsche Bescheidenheit und das Schweigen der Ausgegrenzten“ wurden im Februar 1992, nach einem langen Diskussionsprozess, verabschiedet und im Dezember 1996 aktualisiert.

Zum damaligen Zeitpunkt eher belächelt und als reine Utopie abgetan, hat die Forderung nach Existenzgeld heute an politischer Bedeutung gewonnen. Angesichts der Kritik am kapitalistischen Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungswirkung bei gleichzeitiger Steigerung der Profitraten von Konzernen und anhaltender Massenarbeitslosigkeit, spielt die Suche nach einer Alternative, außerhalb des kapitalistischen mainstreams, eine immer größere Rolle. Ausgehend von verschiedenen Voraussetzungen nähern sich Menschen und Initiativen aus unterschiedlichen sozialen Milieus (Universität, Kirche, Gewerkschaft etc.) dem Gedanken eines bedingungslosen Grundeinkommens an.

Dies zeigt sich nicht nur an den Diskussionen innerhalb der Bündnisse von Initiativen und Einzelpersonen seit der großen Demonstration gegen Sozialabbau in Berlin am 1. November 2003, sondern auch an der Gründung eines Deutschen Netzwerkes Grundeinkommen am 09. Juli 2004 in Berlin.

 

 

Warum setzen sich Arbeitslose für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein?

Dass es gerade Erwerbslose waren, die 1992 ihre Ansprüche zu Papier brachten, hatte einen objektiven Grund. Je dauerhafter die Massenerwerbslosigkeit anhielt, desto deutlicher wurde die Unmöglichkeit des kapitalistischen Systems, jedem Menschen im erwerbsfähigen Alter einen angemessenen Arbeitsplatz oder zumindest eine menschenwürdige materielle Absicherung zu garantieren, und um so häufiger wurde eine Lebensperspektive in Frage gestellt, die ausschließlich die Lohnarbeit als Sinn des Lebens akzeptiert. Hinzu kamen das Scheitern des "Realsozialismus" und der Beginn des "Umbaus" des Sozialstaates. Altes musste neu diskutiert und Neues genau analysiert werden. Der Sturz des DDR-Regimes wurde in der Öffentlichkeit gleichgesetzt mit dem Scheitern von gesellschaftlicher Phantasie und Utopiedenken. Das Nachdenken über Alternativen zu dem Bestehenden galt als antiquiert, Utopien als für immer gescheitert.

Die soziale Realität eines großen Teils der Erwerbslosen und SozialhilfebezieherInnen, ließ den eigenen politischen Blickwinkel auf Alternativen jenseits der Lohnarbeit, aber auch jenseits des traditionellen Klassenkampfes zu. Dies auch deshalb, weil Forderungen der Erwerbslosen in Tarifauseinandersetzungen oder Streiks nirgends eine Rolle spielten.

 

Allein der Vergleich der offiziellen Arbeitslosenzahlen für den Juli 2004 mit 4,36 Millionen und dem gegenüberstehenden Angebot von 296.000 offenen Arbeitsstellen zeigt die Absurdität eines Glaubens an mögliche Vollbeschäftigung.

Profit ist das Treibmittel des Kapitalismus, seine Logik ist nicht die Produktion für den Bedarf, sondern beruht auf der Aneignung und der Akkumulation von Profit. Sie setzt eine unaufhaltsame Dynamik der Rationalisierung und Produktivitätssteigerung in Gang, an deren Ende der massive Austausch von Menschen durch Maschinen steht.

Von 1991 bis 2000 ist die Zahl der ArbeiterInnen in der Industrie in Westdeutschland von 4,9 auf 3,6 Millionen zurückgegangen. Die Produktivität von IndustriearbeiterInnen ist in Deutschland in diesem Zeitraum um über 70% gestiegen. (Statistisches Jahrbuch 2002)

Es wird immer weniger Arbeitszeit benötigt, um immer mehr Produkte herzustellen. Eine Tendenz, die auch grenzübergreifend ist: In den 20 größten Volkswirtschaften der Welt gingen zwischen 1995 und 2002 31 Millionen Fabrikjobs verloren. Während die Stahlproduktion der Vereinigten Staaten in den letzten zwanzig Jahren von jährlich 75 Millionen auf 102 Millionen Tonnen stieg, sank die Zahl der dazu benötigten Stahlarbeiter von 289 000 auf 74 000. (J.Rifkin, Süddeutsche Zeitung 23.12.2003)

Jede Forderung nach mehr Wachstum unterstützt und fördert diese Entwicklung. Offensichtlich ist, dass die sozialen Sicherungssysteme, die auf Transfers aus Lohneinkommen beruhen, angesichts der Veränderungen der Arbeitsmärkte und Arbeitsverhältnisse kaum mehr haltbar sind.

Zudem wird der Vollzeiterwerbsarbeiter zu einer minoritären gesellschaftlichen Gruppe, denn immer weniger Menschen in Deutschland verdienen ihren Lebensunterhalt mit Erwerbsarbeit. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten 2002 nur noch 40% der Menschen von Lohn und Gehalt. (taz 15.10.2003) In Sachsen-Anhalt bestritten nur rund 39% der Bewohner ihren Lebensunterhalt selbst, 41% waren arbeitslos, bezogen Rente oder Sozialhilfe, waren Kinder bzw. Jugendliche, lebten von Kapital- oder Immobilieneinkünfte usw. (Frankfurter Rundschau 07.06.2004)

In der Öffentlichkeit gibt es kaum eine Diskussionen über die Sinnhaftigkeit und Zerstörungskraft von kapitalistisch organisierter Lohnarbeit. Es gab diese Debatte in den 70er Jahren. Diese verschwand in dem Maße, wie es weniger Arbeitsplätze gab und moralischer Druck zunahm, keine Ansprüche mehr an Lohnarbeit zu stellen. Sie wird als gesellschaftlich notwendig erachtet und als Grundlage sozialer Integration angesehen.

Es mag stimmen, das der Mensch tätig sein will, aber will er deshalb auch Lohnarbeit?

„Freiheit ist das Leben als Tätigkeit, nämlich als autonomes, selbstbestimmtes Handeln.“ (Dahrendorf, S.79) Entfremdete, abhängige Erwerbsarbeit wird damit ausgeschlossen. Dennoch gilt in der Gesellschaft als wahres Tun nur die Lohnarbeit. Erwerbslosigkeit erhält das ideologische Klischee des Nichtstuns; Glück und Arbeitslosigkeit schließen sich aus. Mit entsprechendem materiellem und moralischem Druck wird so die Entwicklung von Lebensentwürfen, die sich nicht am Lohnarbeitmodell orientieren und die nicht von Konsumismus und Leistungsethik getragen sind, be- und verhindert.

Zusammengefasst bedeutet dies:

Vollbeschäftigung wird es nicht mehr geben und ist auch nicht erwünscht. Erwerbslose leiden weniger unter fehlenden Arbeitsplätzen, als vielmehr unter materiellen Entbehrungen und systematischen Entwürdigungen auf den zuständigen Ämtern. Viele Erwerbslose sind ohne Erwerb, aber dennoch tätig. Sie engagieren sich in politischen, künstlerischen, kooperativen, sportlichen oder anderen gesellschaftlichen Bereichen, legen den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf Hausarbeit, Kindererziehung etc., erhalten dafür aber keine finanziell ausreichende Unterstützung. Die Möglichkeit, ohne materiellen Druck und ohne Zwang zur Lohnarbeit zu existieren, ist unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung von sozialer Phantasie und wirklicher Innovation zur Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse.  „Wenn Intelligenz und Phantasie ... zur Hauptproduktivkraft werden, hört die Arbeitszeit auf, dass Maß der Arbeit zu sein.“ (Gorz, S. 120)

 

 

Was bedeutet Existenzgeld?

Existenzgeld ist etwas anderes als Grundsicherungsmodelle, wie Mindesteinkommen, Mindestsicherung oder Bürgergeld, denn bei diesen geht es hauptsächlich um die Sicherung des Existenzminimums desjenigen Personenkreises, der arbeitssuchend/arbeitslos ist oder aus unterschiedlichen Gründen nicht am Erwerbsarbeitsprozess teilnehmen kann. Erwerbsarbeit hat Vorrang und ist vom Bedarfsfall abhängig, d.h. etwaige LeistungsbezieherInnen müssen sich einer Bedürftigkeitsprüfung unterziehen. Die sozialen Sicherungssysteme sollen in diesem Sinne ausgebaut werden, bleiben aber von ihrer Aufbaustruktur unangetastet.

Dagegen geht das Grundeinkommen von einem Rechtsanspruch auf eine bedarfsunabhängige, ausreichende materielle Absicherung aus. Weder soll es eine Bedürftigkeitsprüfung, noch eine Abhängigkeit von zu leistenden Arbeiten geben. Das Grundeinkommen wird also bedingungslos an den einzelnen Bürger bzw. Bürgerin ausgezahlt. Die bestehenden Sozialsysteme werden durch das Grundeinkommen ersetzt.

 

 

Kriterien für ein Grundeinkommen ohne Lohnarbeit

 

  1. Es muss an Individuen ausgezahlt werden, unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Familienstand.
  2. Jeder hat einen garantierten Rechtsanspruch darauf, unabhängig von vorheriger Erwerbsarbeit und von der Bereitschaft, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Das Grundeinkommen ist bedingungslos.
  3. Es muss existenzsichernd sein (soziokulturelles Existenzminimum).
  4. Es geht auch um eine radikale Arbeitszeitverkürzung, bei vollem Lohn- und

Personalausgleich, sowie um einen ausreichenden Mindestlohn.

  1. Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um die Frage, wie die gesellschaftliche Produktion und Verteilung organisiert werden muss.
  2. Und es geht um die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung.
  3. Es geht schließlich um ein anderes Gesellschaftsmodell.

Bis zur Durchsetzung des Existenzgeldes geht es um Zwischenschritte, die es hier und jetzt umzusetzen gilt. Wie z.B.: Abschaffung aller Formen von kommunalen Zwangs- oder Pflichtdiensten, Abschaffung von Sperr- und Säumniszeiten, Sicherung des Berufsschutzes, Nulltarif für öffentliche Verkehrsmittel sowie Bildungs- und Kultureinrichtungen.

 

Zur Begründung des Existenzgeldes und einer möglichen Finanzierung äußerten sich die Protagonisten der Existenzgeldforderung wie folgt:

„Die Forderung nach Existenzgeld schließt die Art und Weise, wie die Arbeit organisiert ist und was für wen produziert wird, ein; denn daran hängen neben der Erwerbslosigkeit auch alle anderen Probleme wie die Ausbeutung der Menschen in der sog. Dritten Welt, die Umweltzerstörung, die Sinnentleerung im Konsum etc. Weil im Grunde klar ist, dass in jeder Gesellschaft gearbeitet werden muss, um die materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse aller Menschen befriedigen zu können, geben wir auch den Anspruch nicht auf, diese Arbeit gemeinsam mit allen Menschen selbst zu organisieren. Die Produktion muss an den Bedürfnissen der ProduzentInnen orientiert sein. In unserer Forderung nach Existenzgeld ist deshalb die nach gesellschaftlicher Aneignung der Arbeit enthalten.

Wir verstehen unter gesellschaftlich notwendiger Arbeit nicht nur den "normalen" Produktions- und Dienstleistungsbetrieb, sondern auch die gesamte unbezahlte "private" Reproduktionsarbeit. Sie umfasst unter anderem die Erziehungs- und Hausarbeit, die Arbeit in Initiativen, Nachbarschaftshilfe, kulturelle Arbeit, gegenseitige Hilfe, Unterstützung und Beratung.

Existenzgeld bedeutet für uns die individuelle Absicherung, um diese notwendigen Arbeiten auf freiwilliger Basis machen zu können. Wir wollen diese Arbeiten nicht auch noch in "Lohnarbeitsverhältnisse" zwingen und womöglich damit ihre geschlechtsspezifische Verteilung festschreiben. Untrennbar damit verbunden ist die Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, damit der Anspruch auf gerechte Verteilung für alle gelten kann. (Bundesarbeitsgruppen, S.6/7)

Als ausgezahlte Geldleistung aus dem in den kapitalistischen Industrienationen angehäuften Reichtum hat das Existenzgeld die bestehende Weltwirtschaftsordnung zur Voraussetzung. Dieser Widerspruch - nämlich die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren und gleichzeitig Forderungen auf ihrer Grundlage zu formulieren - ist uns bewusst. Die Forderung nach Existenzgeld durchbricht jedoch eines der grundlegendsten Gesetze des Kapitalismus: den Zwang zur Lohnarbeit. und zielt damit auf einen Entwurf einer politischen und sozialen Utopie von Emanzipation.

In diesem Sinne begreifen wir den Weg zur Realisierung unserer Forderung als Teil der weltweiten Kämpfe um die Befreiung von Herrschaft. (Bundesarbeitsgruppen, S.8/9)

 

Existenzgeld und Versicherungsleistungen müssen miteinander verbunden werden. Notwendig ist deshalb ein Existenzgeld als Sockel, dessen Höhe unabdingbar über den derzeitigen Sozialhilfesätzen  zu liegen hat. Für Personen, die in ihrer zurückliegenden Erwerbsarbeit in die Sozialversicherungen einbezahlt haben, erhöht sich dieser Betrag anteilig um die Summe, die ihnen ohnehin aus ihren Beiträgen zufließen würde. BezieherInnen von Niedrigeinkommen steht eine Aufstockung in Höhe des Existenzgeldes zu. Dies wird sowohl durch Sozialversicherungsbeiträge als auch durch eine Umverteilung von Steuereinnahmen realisiert.

Das Existenzgeld hätte die Funktion einer Mindestrente, eines Mindestlohns, eines Mindesteinkommens aus Lohnersatzleistungen und der Hilfe zum Lebensunterhalt; es gilt auch als Mindestkrankengeld. Dies betrifft all diejenigen, die nicht lohnabhängig waren, die über ein Niedrigeinkommen verfügen oder bei denen die Leistungen aus der Sozialversicherung unter dem Existenzminimum liegen. Für diesen Personenkreis fordern wir darüber hinaus den Nulltarif für öffentliche Verkehrsmittel und Bildungs und -Kultureinrichtungen sowie die Übernahme von Zuzahlungen bei ärztlicher Behandlung.

Als Zwischenschritt halten wir bereits heute die Sockelung durch ein so gestaltetes Existenzgeld für realisierbar.

Unsere Utopie zielt darüber hinaus ab auf die endgültige Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Es geht dann nicht mehr allein um die in der Regel minimale Absicherung gegen Lebensrisiken, wie sie das bestehende Sozialrecht intendiert, sondern um die freie Entfaltung der Persönlichkeit, wobei Raum ermöglicht würde für die Ausgestaltung gesellschaftlich notwendiger und/oder sinnvoller Arbeit und das Erstreiten von Bürgerrechten und politischer Teilhabe. (Bundesarbeitsgruppen, S.12)

Wir sind uns bewusst, dass ein Existenzgeld für sich genommen weder die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung abschafft noch Lohnarbeit in der gegenwärtigen Form angreift. Die Erkämpfung des Existenzgeldes wird einhergehen mit einem Prozess der Bewusstseinsbildung, innerhalb dessen sog. Eigenarbeit und gesellschaftlich notwendige Arbeit ins Blickfeld gerückt und sowohl Konsumismus als auch die herrschende Arbeitsmoral in Frage gestellt werden können.“ (Bundesarbeitsgruppen, S.15)

 

Einen ähnlichen Ansatz verfolgten auch die Sozialhilfeinitiativen, die gemeinsam mit den Erwerbslosengruppen 1992 ihr Thesenpapier "Existenzgeld für alle statt ein Leben in Armut" veröffentlichten. Es wurde 1998 nochmals aktualisiert und unter dem Titel "Thesen zum Existenzgeld" herausgegeben. Im Unterschied zu den Erwerbsloseninitiativen stellte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI) eine konkrete Forderung (1500 DM monatlich plus tatsächliche Wohnkosten) und ein eigenes Finanzierungskonzept in den Mittelpunkt ihrer Argumentation.

Das Existenzgeld ist eine bedarfsorientierte Grundsicherung, festgesetzt auf 1500 DM (jetzt 800 €) monatlich incl. 200 DM für die gesetzliche Krankenversicherung und wird dynamisiert. Das Existenzgeld ist unpfändbar. Zusätzlich zum Existenzgeld werden tatsächliche Wohnkosten bis zu durchschnittlich 500 DM monatlich für eine Einzelperson übernommen. Das Existenzgeld ersetzt zunächst Sozialhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz, Arbeitslosenhilfe, Kindergeld, Erziehungsgeld und BaföG. Einkommen aus Renten, Pensionen und Arbeitslosengeld werden in die "Take-half"-Regelung eingebunden. Das Existenzgeld ist bundesfinanziert durch den bisherigen Teil des Steueraufkommens für soziale Transferleistungen, die bisherigen Sozialversicherungsbeiträge und die zukünftige zweckgebundene Existenzgeld-Abgabe von 50% ("Take-half") auf Nettoeinkommen jeglicher Höhe. Einzelne Steuerarten sind einzuführen bzw. neue festzusetzen – z.B.: Spekulationsgewinnsteuer, Kapitalexportsteuer, Erbschaftssteuer usw.(BAG der Sozialhilfeinitiativen, S. 53/54)

Nicht nur das die BAG-SHI in  minutiöser Kleinarbeit nachweisen konnten, das es eine Finanzierungsgrundlage für ein Existenzgeld durch eine Umschichtung des Steuereinkommens, der Sozialversicherungsbeiträge sowie der "Take-half"-Regelung und neuer Steuerfestsetzungen auch unter kapitalistischen Vorbedingungen gibt. Sie präsentierten auch ein eigenes Umverteilungskonzept von oben nach unten, die Take-half-Regelung, eine 50%ige zweckgebundene Abgabe für alle.

Beispiel:

Eine Person, die jetzt 1000 € netto hat (egal ob Lohneinkommen, Kapitalerträge oder Leistungsentgelte) würde dann 500 € "Take-half" abgeben. Zu den verbleibenden 500 € kommen 800 € Existenzgeld, was 1300 € ergibt. Wer mehr verdient, hat dann weniger zur Verfügung und wer weniger verdient wiederum mehr.

 

Vorschläge, die sich primär am Erwerbseinkommen über den Arbeitsmarkt oder an der Pflicht zur Lohnarbeit orientieren, sind keine Alternative. Sie reproduzieren die kapitalistischen Grundbedingungen der Ausbeutung, der Produktivitätssteigerung ohne positive Auswirkungen für die Betroffenen, autoritäre Formen des Sozialstaates usw.  So antwortete Ulrich Beck auf die Frage „Geht es bei der Bürgerarbeit um freiwilliges Engagement oder Pflicht?“: „Mir steht wesentlich ein freiwilliges Engagement vor Augen. Allerdings könnte ich mir vorstellen, das Jugendliche schon aufgefordert werden, sich mit einer gewissen Verbindlichkeit zu engagieren.“ (Frankfurter Rundschau 25.02.2004)

Jugendliche, als speziell zu bearbeitende soziale Gruppe sind auch primäre Zielscheibe der rot/grünen Arbeitsmarkt“reform“. Wer die kommunale Arbeitsdienstpflicht nicht akzeptiert, erhält nur noch Lebensmittelgutscheine.

 

Ebenso wenig sind Vorstellungen zu akzeptieren, die von einer Leistungshöhe ausgehen, die das Armutsrisiko erhöhen. Oskar Negt spricht in diesem Zusammenhang von einem Grundeinkommen, „das gewiss nicht üppig ausfallen dürfte“. (Frankfurter Rundschau 30.07.2004) Weshalb und Warum ein Grundeinkommen nur auf niedrigem Niveau angesiedelt sein darf, lässt er offen. Interessant ist die Häufigkeit der Vorschläge zu materiellen Sicherungsgrenzen, die kaum zum Leben reichen, durch Personen, die selbst ausreichend abgesichert sind.

Bei der Bewertung von sozialpolitischen Alternativen stellt sich darüber hinaus die Frage, welche Gesellschaftsanalyse dem jeweiligen Vorschlag zugrunde liegt, welches Menschenbild und welche Vorstellungen von Glück und einem menschenwürdigen Dasein erkennbar sind (z.B. ob es darum geht gesellschaftliche Spaltungen aufgrund von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt erträglicher zu gestalten, z.B. durch subventionierte Arbeit). Und ob eine gesellschaftliche Perspektive impliziert ist (z.B. die Möglichkeit eines Lebens ohne Arbeitslosigkeit und Armut, ohne Ausbeutung von Arbeitskraft, ohne Ausplünderung anderer Länder etc.).

 

Die Forderung nach einem Existenzgeld strebt als sozialpolitisches Fernziel die Aufhebung der Spaltungen innerhalb der Armutsbevölkerung (in Arbeitslose, SozialhilfebezieherInnen, NiedriglöhnerInnen, RentnerInnen usw.) an, als provokative Forderung verdeutlicht sie, dass auch gegessen werden darf, ohne sich dem kapitalistischen Verwertungsprinzip unterwerfen zu müssen, und als aufklärerische Komponente beinhaltet sie die Aussage, dass Lohnarbeit kein unveränderbares Schicksal darstellt.

 

Ein garantiertes Grundeinkommen in diesem Sinne

 

-richtet sich gegen Armut und soll von Existenzängsten befreien,

-richtet sich gegen den Zwang, Niedriglohn-Jobs oder andere Zwangstätigkeiten annehmen zu

 müssen,

-richtet sich gegen Lohnsenkungen und Erpressbarkeit von Arbeitnehmern,

-richtet sich gegen Bürokratieauswuchs und kostspielige Arbeitsmarktprogramme,

-will, dass auch andere Tätigkeiten vollzogen werden können,

-fördert die Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern,

-stärkt die Eigenverantwortung (es erlaubt allen, ihre Besonderheiten, unterschiedliche

 Fähigkeiten, Wünsche und Lebensstile unbekümmert zu entfalten),

-will eine gerechtere Verteilung von Einkommen,

-will ein universelles Menschenrecht auf Leben in Würde,

-tritt für ein anderes Wirtschaften und sorgsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen ein und

-will eine Veränderung gesamtgesellschaftlicher Werthaltungen und Zielsetzungen.

 

Wenn wir das alles mit der Existenzgeldforderung verbinden, können nicht Vollbeschäftigung, lebenslanges Lernen oder bloße Arbeitszeitverkürzung die Alternativen sein.

Es muss das aufgegriffen werden, was sich schon längst an Untergrundökonomie, Tätigkeitskollektiven, Arbeitsverweigerung und glücklichen Arbeitslosen entwickelt hat.

Hier setzt der gesellschaftliche Veränderungshebel an: für aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschlossene, für nie Eingetretene und für freiwillig Ausgetretene.

Nach Andre Gorz bedarf es dazu ein für alle garantiertes, bedingungsloses und ausreichendes soziales Grundeinkommen, denn dieses richtet sich gegen den Zwang, jede beliebige Arbeit annehmen zu müssen und "zielt auf deren Befreiung von den Zwängen des Arbeitsmarktes ab (Gorz, S.115). Es gehe nicht um ein Recht auf "abstrakte" Arbeit (die irgendwie zu verrichten ist), sondern um ein Recht "auf konkrete Arbeit, die man, ohne dazu genötigt zu sein und ohne deren Rentabilität und Tauschwert berechnen zu müssen, macht." (Gorz, S.116)

Er konstatiert, dass "Lust und Freude am Arbeiten mit Arbeitszwang unvereinbar sind und durch dessen Abwesenheit erhöht werden" kann (Gorz, S.121). Will man, "dass das allgemeine Grundeinkommen die Entwicklung von freiwilligen Tätigkeiten und künstlerischen, kulturellen, familiären und kooperativen Aktivitäten fördert, muss es demnach für alle bedingungslos gewährleistet sein. Denn nur seine Bedingungslosigkeit kann die Unbedingtheit der Aktivitäten wahren, die nur um ihrer selbst willen ausgeführt sinnvoll sind." (Gorz, S. 126)

 

Ein garantiertes Grundeinkommen wird nicht automatisch alle gesellschaftlichen Probleme lösen, dazu gehören bestimmte Voraussetzungen:

Wir müssen einen Bewusstseinswandel, bis hin zur Notwendigkeit eines garantierten Grundeinkommens herbeiführen.

Wir müssen unsere alltäglichen Lebensverhältnisse (Konsumorientierung, soziale Beziehungen etc.) verändern.

Wir müssen, im Sinne von Gorz, dafür sorgen, dass Arbeitszeit aufhört, gesellschaftlich vorrangige Zeit zu sein. Wir müssen lernen, neue Formen der Gesellschaftlichkeit, neue Kooperationsverfahren, die jenseits der Lohnarbeit soziale Bindungen und sozialen Zusammenhalt schaffen, zu entwickeln, und vielleicht müssen wir überhaupt erst wieder lernen, außerhalb der Lohnarbeit tätig zu sein. Dazu gehört auch solidarisches Handeln, jenseits von egoistischen Rangeleien.

 

 

Wie lässt sich Existenzgeld durchsetzen?

Mussten wir in den 90er Jahren mangels öffentlichem Interesse (auch in gesellschaftskritischen Gruppierungen) noch auf den utopischen Charakter der Existenzgeldforderung hinweisen, so wird sie mehr und mehr, aufgrund der Dysfunktionalität der sozialen Sicherungssysteme, zu einem realen, öffentlich diskutierten Weg in eine Alternative.

Nur eine soziale Bewegung außerhalb des parlamentarischen Systems wird in der Lage sein, Existenzgeld auf die politische Tagesordnung zu setzen. Alle von Lohn- und Sozialabbau Betroffenen und alle Einsichtigen, denen das Recht auf Einkommen bzw. das Recht auf ein (gutes) Leben wesentlich erscheint, sind die Träger dieser Bewegung. Hinzu kommen die Aktiven aus den Sozialen Bewegungen und globalisierungskritischen Zusammenhängen.

 

Gegen den Vorwurf, staatsorientiert und damit integrierbar zu sein, gilt festzuhalten: Jede politische Forderung unterliegt der Möglichkeit der Einbettung in eine kapitalbestimmte Strategie; entscheidend ist: Kann eine Forderung das herrschende Bewusstsein umwälzen, ist sie in der Lage, eine breite außerparlamentarische Bewegung zu formieren, und enthält sie substantiell eine gesellschaftliche Perspektive.

Nicht nur bei den Initiativen der Arbeitslosen und SozialhilfebezieherInnen, sondern auch in den Forderungen bei verschiedenen Studentenstreiks und in gewerkschaftlichen Diskussionen findet sich der Anspruch auf Existenzgeld wieder. Eine Popularisierung erfolgte in der letzten Zeit durch Positionsbestimmungen verschiedener Intellektueller (Opielka, Offe, Oevermann, Hirsch etc.), Kirchenvertreter (Hengsbach, Katholische Arbeitnehmer Bewegung und andere), globalisierungskritischen Bewegungen und Sozialforen. Schließlich ist die Gründung eines deutschen Netzwerkes Grundeinkommen ein erster Schritt um alle Initiativen und Einzelpersonen, die sich einem bedingungslosen Grundeinkommen anschließen wollen, zusammenzufassen und Aktivitäten in diese Richtung gebündelt und bündnisorientiert

voranzutreiben.

Kulturschaffende  sollten gewonnen werden, das Thema Existenzgeld dahingehend aufzugreifen, dass sie dieses in kulturelle und konsumkritische Zusammenhänge stellen.

Zum ersten Mal bildet sich zum in Europa eine breitere soziale Basis für eine Forderung nach existenzieller Absicherung, die über die (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft hinausweist, d.h. die Zusammenarbeit und Unterstützung internationaler Bewegungen, wie z.B. Basic Income European Network (BIEN), das Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt in Österreich, die Commission revenue d`AC! in Frankreich, reddito di cittadinanza in Italien, renta basica in Spanien sowie Initiativen in  Südafrika, Alaska oder Irland ist dringendstes Gebot.

 

 

 

Literatur:

BAG der Sozialhilfeinitiativen (Hg.): Existenzgeld für Alle, Neu-Ulm, 2000

Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut (Hg.): Existenzgeld. 10 Positionen gegen falsche Bescheidenheit und das Schweigen der Ausgegrenzten, Frankfurt, 1996

R.Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung, München 2003

1.Bundeskongress der Arbeitslosen (Hg.).: Arbeitsloseninitiativen der BRD und Westberlin, Frankfurt/M., 1983

A.Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt, 2000

H.-P.Krebs/H.Rein (Hg.): Existenzgeld, Münster 2000

www.existenzgeld.de

www.grundeinkommen.de

www.basicincome.org