60.000 Euro für jeden 18-Jährigen
Eine "Sozialerbschaft" kann Bildungshunger wecken und die Selbständigkeit fördern / Von Gerd Grözinger, Michael Maschke und Claus Offe
Jeder Bürger soll zum Start ins Erwachsenenleben mit einem Kapital von 60.000 Euro vom Staat ausgestattet werden. Damit können junge Leute ihre Ausbildung finanzieren, ein Unternehmen oder eine Familie gründen. Mit dieser Idee stellen drei Wissenschaftler die bisherige Konstruktion des Wohlfahrtsstaats auf den Kopf.

Gute Chancen auf dem Jobmarkt (dpa)
Von dem Startkapital, das alle Bürger ab dem 18. Lebensjahr erhalten, könnten z. B. Ausbildungen finanziert, freiberufliche Tätigkeiten begonnen oder Wohneigentum erworben werden; es dient aber auch als vorrangige Absicherung gegen Einkommensarmut. Damit sind zahlreiche implizite Anknüpfungspunkte an gegenwärtig in Deutschland geführte Diskussionen, an die aktuellen Debatten über den Umbau des Sozialstaats, die Generationengerechtigkeit, die staatliche Fiskalsouveränität unter den Bedingungen der Globalisierung, die unzulängliche Kapitalversorgung mittelständischer Unternehmen, die Hochschul- und Studienfinanzierung sowie die viel geforderte Reform der Besteuerung von Erbschaften und Vermögen gegeben. (. . .)

Wir sehen eine Sozialerbschaft sicher nicht als das Allheilmittel für alle Schwierigkeiten des Sozialstaats an. So wird es weiter eine Kranken-, Pflege-, Alters- und auch Arbeitslosenversicherung geben müssen. Aber um den Elan der jüngeren Generation anzuspornen, um mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu schaffen und vor allem auch, um Staatsbürger zu am Gemeinwesen interessierte Teilhaber zu machen gibt es unserer Meinung nach nicht Besseres.

Die Stakeholder-Gesellschaft
Bruce Ackerman und Anne Alstott, beide Professoren an der Yale-Universität, schlagen vor, allen Bürgern mit der Volljährigkeit ein Startkapital in Höhe von 80.000 US-Dollar zu geben, zur weitgehend freien Verfügung.

Das Kapital soll ab 18 Jahren zinsträchtig angelegt und spätestens ab dem 21. Lebensjahr in vier Jahrestranchen den Anspruchsberechtigten ausgezahlt werden. Wer ein Studium oder eine Berufsausbildung davon finanziert, kann bereits früher darüber verfügen.

Diese Sozialerbschaft wird zuerst durch eine Vermögenssteuer finanziert, später, wenn die ersten Nutznießergenerationen selbst Erblasser geworden sind, durch eine prioritäre Erbschaftssteuer. ber
Natürlich ist der Vorschlag, allen jungen Erwachsenen ein nicht unerhebliches Vermögen zur Verfügung zu stellen, eine Zumutung für lang gehegte Überzeugungen. Darf man verdienten Älteren wirklich erhebliche Lasten auferlegen, um deren Erträge an Newcomer zum gesellschaftlichen Leistungssystem umzuverteilen? Wer bekommt das überhaupt? Stellen die damit auch keinen Unsinn an, so dass es nur zu einer gigantischen Verschwendung kommen würde?

Wir halten dagegen, dass eine solche Chance zu zahlreichen Aktivierungen gerade bei denen führt, die sich zurzeit als eher chancenlos empfinden. Dazu bedarf es aber einiger Voraussetzungen. Die erste ist, dass zwar alle ein Anrecht auf die Erträge "ihres" Vermögens haben, aber die Auszahlung des Kapitals selbst an einige Bedingungen geknüpft sein sollte. Die erste ist, dass - zumindest über eine längere Lebensphase zu Beginn - ein bestimmter Bildungsabschluss erreicht wurde (Abitur oder Lehre). Das stärkt zum einen die Rolle der Schule, die auf diesen Erbschaftsfall im Unterricht intensiv vorbereiten muss, zum anderen führt es zu einer Nachfrage nach solchen Abschlüssen seitens der Jugendlichen und deren Eltern. Das dürfte ganz nebenbei der Politik die stärkste Pro-Bildungs-Lobby bescheren, die man in Deutschland je gesehen hat.

Zweitens sind mehrere ausführliche Pflichtberatungen vorgesehen. Drittens gibt es eine Gewöhnungs- und Verzögerungsphase, wo zunächst zwar die Zinsen ausgezahlt werden, aber das Kapital in der Regel unantastbar bleibt, und auch danach wird nicht alles sofort, sondern nur in mehreren Jahren auf das individuelle Konto transferiert. Das trainiert das Umgehen mit dem eigenen Vermögen.

Gründer schaffen Arbeitsplätze

Viertens schließlich ist nicht nur die deutsche Staatsangehörigkeit, sondern auch eine längere Phase des Schulbesuchs in Deutschland nachzuweisen. Der Schule muss die tatsächliche Gelegenheit gegeben werden, früh und lange einzuwirken. Sowohl die aufgewertete Bedeutung eines formellen Bildungs- oder Ausbildungsabschlusses wie diese Bestimmung hätten wieder einen starken positiven Nebeneffekt. Denn vor allem die Integration der Migrantenkinder würde gestärkt. (...)

Die Autoren
Gerd Grözinger leitet das Zentrum für Bildungsforschung an der Universität Flensburg.

Claus Offe gehört seiner Emeritierung im Frühjahr 2005 zum Professorium der Hertie School of Governance Berlin. Von 1975 bis 1988 war er Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Bielefeld, von 1988 bis 1995 Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Bremen. In Bremen war er Leiter der Abteilung "Theorie und Verfassung des Wohlfahrtstaates" am Zentrum für Sozialpolitik. Ab 1995 war er Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin.

Michael Maschke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften, Lehrbereich politische Soziologie und Sozialpolitik an der Humboldt- Universität zu Berlin. Die Autoren haben im Auftrag der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung eine Studie erarbeitet. Sie wird Ende des Jahres im Campus-Verlag erscheinen. Die hier in Auszügen dokumentierte Kurzfassung der Studie wurde jetzt in Berlin vorgestellt. Die komplette Kurzfassung ist im Internet zu finden unter: www.boell.de/arbeit ber
Nehmen wir als anderes Beispiel für die zahlreichen positiven Wirkungen einer Sozialerbschaft die Firmengründungen heraus. Eines der stärksten ökonomischen Argumente für ein breit gestreutes Anfangskapital für alle ist die Möglichkeit, sich damit schon in sehr jungen Jahren wirtschaftlich unabhängig machen zu können. Natürlich ist ein Schritt in die Selbstständigkeit immer auch mit allerhand Risiken verbunden. Aber Selbstständige scheinen im Durchschnitt trotz aller damit oft auch verbundenen Probleme ihre größeren Freiheiten, ihre stärkere Selbstbestimmung doch in der Summe sehr wertzuschätzen. So ist bei Untersuchungen ein eindeutig positiver Einfluss der wirtschaftlichen Selbstständigkeit auf das individuelle Wohlbefinden beobachtbar. Kein Wunder also, dass fast jeder zweite Deutsche am liebsten so arbeiten würde.

Eine höhere Selbstständigenquote hätte aber noch manche andere Vorteile, die auch Dritte betreffen. Das gilt vor allem für die Beschäftigungswirkung. Im Schnitt geht eine Gründung in Deutschland rechnerisch mit der Schaffung von drei Arbeitsplätzen einher. Und gerade in der neueren Zeit haben kleine Firmen eine bessere Arbeitsmarktbilanz als die große Konkurrenz. Während Großbetriebe ihre Beschäftigten abbauten, nahm dagegen der Anteil der Erwerbstätigen vor allem in der untersten Zählklasse der Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten zu. Der Mittelstand in Deutschland insgesamt erzeugt zwar nur weniger als die Hälfte aller Umsätze. Aber er beschäftigt ungefähr zwei Drittel aller Arbeitnehmer und bildet mehr als vier Fünftel aller Lehrlinge aus.

Trotz mancher hilfreicher Aktivitäten der öffentlichen Hände bei einer geplanten Gründung war der Erfolg bisher aber noch nicht durchschlagend. Weder in der Landwirtschaft, noch in der Industrie, noch in den Dienstleistungen erreicht Deutschland die Selbstständigenquote der Europäischen Union bzw. ihrer langjährigen fünfzehn Mitglieder. Das sollte eine breit angelegte Sozialerbschaft ändern können.


Denn eine Geschäftsgründung ist weniger eine Frage des Charakters denn der Gelegenheit. Ökonomen sind der Frage, ob Selbstständigkeit eher ein Persönlichkeitsmerkmal darstellt oder eher günstigen Bedingungen geschuldet ist, einmal nachgegangen. Sie haben konkret untersucht, ob eine plötzliche Erbschaft eigentlich zu einem veränderten Gründungsverhalten führt. Das Ergebnis war sehr eindeutig: selbst nicht allzu hohe Beträge führten gleich zu einer erheblich größeren Wahrscheinlichkeit für den Schritt in die Selbstständigkeit. Das galt besonders für die Jüngeren, die sonst häufig am Mangel von Kapital oder Sicherheiten scheiterten. Es ist also sehr produktiv, für genau diese Altersgruppe die Chance für einen eigenen Start gesellschaftlich zu organisieren.

Mit einem Startkapital für alle lässt sich viel anzufangen. Eine eigene Geschäftsidee zu verfolgen und damit auch beizutragen, die Gründungsschwäche in Deutschland umzukehren, ist sicher eine davon. Sich früh auf Wohneigentum zu freuen, eine andere. Schon in jüngeren Jahren an Kinder zu denken, auch wenn das Einkommen in dieser Phase altersmäßig noch eher gering ist, eine dritte. Oder viertens auch, sich eine ordentliche Hochschul-Ausbildung leisten zu können, die der an amerikanischen Einrichtungen ebenbürtig wäre.

Dieses letzte Beispiel zeigt zugleich, wie die Gesellschaft insgesamt davon profitierte, indem ein häufig überfordert scheinender Staat dadurch entlastet werden könnte (ähnlich sicher auch in der Familienpolitik). Zwar ist sein langem klar, dass unsere Hochschulen unterfinanziert und unterdimensioniert sind. Deutschland fällt ökonomisch auch deshalb zurück, weil wir seit Jahrzehnten zu wenig hier investieren. Aber die Politik scheint nach wie vor nicht in der Lage, Abhilfe zu schaffen. Wenn jedoch in Zukunft eine höhere Ausbildung aus der Sozialerbschaft zu finanzieren ist, können die Hochschulen in eine finanzielle und organisatorische weitgehende Autonomie entlassen werden. Der Staat müsste nur noch Qualitätssicherung betreiben und sich um die (weiter gesamtgesellschaftlich zu verantwortende) Forschung kümmern. Ansonsten kann er getrost darauf setzen, dass sich die zahlungskräftige Nachfrage von Studierenden, die sich bessere Einkommenschancen, intellektuelle Anregung und ein interessanteres Tätigkeitsfeld später im Berufsleben erhoffen, ausreichende und finanziell ausreichend ausgestattete Studienplätze schafft.

Und die anderen? Eine sehr große (wenn auch mit den Jahren immer kleiner werdende) Gruppe ist von der Teilhabe ganz ausgeschlossen. Nämlich alle, die das "Pech" hatten, vor dem Stichtag der Einführung (z. B. dem 1. 1. 2007) schon Erwachsene gewesen zu sein. Ein solches Programm lässt sich nur finanzieren, wenn es einen recht harten Schnitt vorsieht und ältere Jahrgänge davon ausgeschlossen bleiben. Das erscheint auf den ersten Blick so ungerecht, dass man das ganze Vorhaben sofort verwerfen möchte. Aber schon ein zweiter Blick zeigt, dass sich ganz so dramatisch der Unterschied nicht darstellt, verlieren die mit Startkapital doch zugleich das Anrecht auf ein kostenloses Studium, auf Bafög-Leistungen und eine Reihe weiterer jetzt gegebener staatlicher Transfers.

Das wichtigste Argument ist aber, dass von den Empfängern verlangt wird, dass sie ihren Anteil an die Gesellschaft wieder zurückzahlen, wenn sie selbst einmal etwas zu vererben haben. Dann wird von ihnen die (durch Zinsen bzw. Produktivitätsgewinne im Umfang angewachsene) Sozialerbschaft zurückgefordert, bevor sie anderen etwas vererben dürfen. Kumulativ werden so aus den 60 000 Euro über eine statistische Lebenserwartung von ca. weiteren sechzig Jahren schnell eine höhere sechsstellige Summe, die z.B. das damit einmal jung erworbene Haus wieder an die Gesellschaft zurückfallen lässt.

Ein neuer Generationenvertrag

Nun sind jedoch Rückzahlungsverpflichtungen beim (durchschnittlich erst im hohen Alter zu erwartenden) Ableben für junge Menschen etwas wenig Konkretes und dürften das Gefühl der Ungleichbehandlung für die vor dem Stichtag 18 gewordenen nur wenig mildern. Wir wollen deshalb alternativ noch eine andere Vorschlagsvariante vorstellen, wie dieser Ungleichbehandlung Rechnung getragen werden kann, ohne das Hauptziel - ein ausreichend dimensioniertes Startkapital bereitzustellen - wieder zu zerstören. Dazu könnte man für die Gruppe mit Startkapital lebenslang etwas höhere Steuersätze auf das Einkommen vorsehen. Dieser "Nachteil" der ansonsten so begünstigt Erscheinenden wird für die anderen sofort sichtbar, und der Ertrag daraus trägt auch rascher zur Refinanzierung bei. Nimmt man etwa an, dass auf die üblichen Einkommensteuersätze immer noch ein Aufschlag von z. B. zwei Prozent für die "Stakeholder" kommt, sehen alle, dass dadurch schon heute der Besserstellung beim Vermögen einer Schlechterstellung beim Nettoeinkommen entspricht. (...)

Eine Sozialerbschaft, die den Namen verdient, ist nicht billig zu haben. Wir haben einen Bedarf von 60 000 Euro berechnet, der somit in etwa auch den langfristigen Wechselkursdifferenzen entspricht.

Der Idee nach ist die Teilhabegesellschaft umlagefinanziert. Die neu auszuzahlenden Anteile werden durch die Rückzahlung der verzinsten Anteile nach dem Ableben früherer Teilhaber refinanziert. Diese Rückzahlung der Anteile an den Fonds hat Vorrang vor Erbschaften an Familienmitglieder. So wird ein Teil des volkswirtschaftlichen Vermögens zwischen den Generationen kollektiv und kohortenbezogen weitergegeben, statt bisher ausschließlich individuell und familienbezogen.

Leider hat diese langfristige Refinanzierung der Teilhabegesellschaft durch die Rückzahlung der früheren Teilhaber an ihrem Lebensende die Schwierigkeit, dass zwischen den ersten Auszahlungen und den ersten Rückzahlungen eine zeitliche Lücke von rund 50 Jahren liegt. Auf Grund dieser zeitlichen Verzögerung werden allerdings in den ersten Jahrzehnten andere Finanzierungsquellen notwendig sein, die nahezu das gesamte Finanzierungsvolumen der Teilhabegesellschaft abdecken müssen. Aber schon nach wenigen Jahren wird auf Grund der Einsparungen bei anderen sozialen Maßnahmen und durch die demografische Entwicklung die Finanzierung einfacher werden. Allein letztere wird den Finanzierungsbedarf im Laufe der nächsten 15 Jahre um ein Viertel senken. Die schwierigste Finanzierungssituation wird daher am Anfang des Projektes stehen. Die beiden zu klärenden Fragen lauten folglich, wie hoch wird der finanzielle Bedarf der Teilhabegesellschaft bei ihrer Einführung sein und wie lässt sich der schwierige Start finanzieren? (. . .)



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Frankfurter Rundschau online 2006
Dokument erstellt am 11.01.2006 um 16:16:07 Uhr
Erscheinungsdatum 12.01.2006