"Es
ist genug für alle da: Massenarbeitslosigkeit überwinden - Arbeit solidarisch
verteilen!" / Ein Aufruf über den Wahltermin hinaus
Für
eine "Vollbeschäftigung neuen Typs" plädiert eine überparteiliche Initiative aus
Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Künstlern. Sie startete einen Aufruf zum
Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit.
Es ist
gespenstisch. Immer mehr Menschen in Europa sind erwerbslos. Diejenigen, die
Arbeit haben, sollen gezwungen werden, länger zu arbeiten, während zur gleichen
Zeit andere Menschen unfreiwillig erwerbslos sind. Diesem Irr-Sinn setzen wir
die Forderung nach einem modernen Recht auf Arbeit, auf kürzere Arbeitszeiten
und eine Politik der solidarischen "Fairteilung" von Arbeit und Einkommen
entgegen.
Massenarbeitslosigkeit ist ein Irr-Sinn. Mit hohen
gesellschaftlichen Kosten und negativen Folgen für die von Arbeitslosigkeit
betroffenen oder bedrohten Menschen. Massenarbeitslosigkeit verstößt gegen
Menschenrechte und verhindert eine faire Teilhabe aller am gesellschaftlichen
Leben. Die politische Bedeutung der Massenarbeitslosigkeit kann gar nicht
überschätzt werden. Es handelt sich um das zentrale Thema in der real
existierenden kapitalistischen Welt. Nur wenn es gelöst wird, kann die immer
latente Gefahr rechtsradikaler und fremdenfeindlicher Bewegungen deutlich
vermindert werden.
Die herrschenden Parteien haben aus den Erfahrungen
der Vergangenheit nichts gelernt und setzen weiterhin stur auf
Wirtschaftswachstum. Was aber, wenn dieses ausbleibt? Auch die politisch
forcierte Ausweitung des Niedriglohnsektors wird die sozialen Probleme in
Deutschland nicht lösen, sondern nur noch verschärfen. Die herrschende Politik
beschäftigt sich nicht einmal ernsthaft mit Konzepten zur radikalen
Arbeitszeitverkürzung. Kein Wunder, wenn die Mehrheit der Bevölkerung von ihr
keinen Abbau der Arbeitslosigkeit mehr erwartet.
Deutschland ist im
internationalen Vergleich ein reiches Land. Mit großen wirtschaftlichen und
sozialen Möglichkeiten. Durch immer effizientere Technik, bessere
Qualifikationen und wachsende Arbeitsintensität produzieren immer weniger
Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr Güter. Andererseits suchen immer mehr
Männer und Frauen Erwerbsarbeit, um sich eine eigenständige materielle Existenz
aufzubauen und zu erhalten. Zwischen dem Angebot von Arbeitsplätzen und der Zahl
der Arbeit suchenden Menschen klafft eine gewaltige Lücke. In Deutschland sind
knapp fünf Millionen Personen erwerbslos.
Mit quantitativem und sogar
qualitativem Wirtschaftswachstum allein wird diese Lücke nicht zu schließen
sein. Die alte, auf Wirtschaftswachstum fixierte Arbeitsmarktpolitik ist
offenkundig gescheitert. Um die heutige Massenarbeitslosigkeit zu reduzieren,
müsste die Wirtschaft jährlich um drei, vier, fünf oder noch mehr Prozentpunkte
wachsen. Solche Zuwächse waren auf niedrigem Niveau nach dem 2. Weltkrieg
möglich. Unter heutigen Bedingungen sind sie pure Illusion. Auch wäre es mehr
als fraglich, ob ein solches Wirtschaftswachstum auf Dauer umweltverträglich
wäre: Frauen lassen sich nicht mehr an den Herd zurückdrängen. Wer zur
Überwindung der Massenarbeitslosigkeit weiter nur auf Wachstum setzt, sitzt in
einer ideologischen Sackgasse.
Faire
Beteiligung
Eine Arbeitszeitverlängerung wäre der falsche Weg. Die
knappe Erwerbsarbeit würde bei immer weniger Menschen konzentriert. Gleichzeitig
würden andere von einer fairen Beteiligung an Arbeit und existenzsichernden
Einkommen ausgeschlossen. Bei einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 35
auf 40 Wochenstunden erhöht sich die Personalkapazität mit einem Schlag - ohne
dass irgendwer neu eingestellt würde - um 15 Prozent. Folglich geriete jeder 7.
Arbeitsplatz in Gefahr. Arbeitszeitverlängerung ist daher
beschäftigungspolitisch kontraproduktiv und erzeugt noch mehr
Arbeitslosigkeit.
Auch andere Gründe sprechen gegen den geforderten Zwang
zur Arbeitszeitverlängerung. Der Erhalt unserer Gesundheit ist wesentlicher Teil
eines guten Lebens. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, dass lange
Arbeitszeiten zu Überforderungen führen und die Gesundheit gefährden. Rücken-
und Kopfschmerzen, Nervosität und psychische Erschöpfung, Schlafstörungen,
Magenschmerzen und Herz-/Kreislaufprobleme sind bei Menschen mit langen
Arbeitszeiten deutlich stärker verbreitet als bei ihren kürzer arbeitenden
KollegInnen.
Arbeitzeitverlängerung ist familien-, frauen- und
kinderfeindlich. Wer eine familienfreundliche und geschlechtergerechte
Arbeitswelt will, kann nicht gleichzeitig Arbeitszeitverlängerung fordern. Wir
brauchen ausreichend Zeit zum Leben, Lachen und Lieben. Erst dann können
Partnerschaften und Familien als Genuss, Kinder als Glück erlebt werden.
Ein
Irr-Weg
Ein Blick über die nationalen Grenzen hinaus zeigt ebenfalls,
dass Arbeitszeitverlängerung auch international ein Irr-Weg ist. Denn ein Zwang
zu längeren Arbeitszeiten beim Exportweltmeister Deutschland erzeugt sofort
Druck auf wirtschaftlich schwächere Länder und zwingt sie, dieser fatalen Logik
zu folgen, in der Konkurrenz nachzuziehen und Arbeitszeiten ebenfalls
auszudehnen. Von Deutschland würde ein falsches Signal ausgehen und eine Spirale
der Arbeitszeitverlängerung in Gang gesetzt. Wer könnte sich dem entziehen? Die
Folge wäre, dass bald überall in Europa länger gearbeitet werden müsste.
Niemandem wäre geholfen und allen geschadet.
Wenn die Zahl der
Erwerbslosen hoch ist, muss die knappe Erwerbsarbeit besser verteilt werden. Bei
einer fairen Verteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens auf alle Erwerbsarbeit
suchenden Männer und Frauen wird die durchschnittliche Arbeitszeit nicht bei 40
Wochenstunden oder mehr liegen, sondern deutlich niedriger. Wir fordern daher
ein modernes Recht auf Arbeit, eine "Vollbeschäftigung neuen Typs" mit kürzeren
Arbeitszeiten. Durchschnittlich 30 Arbeitsstunden in der Woche oder eine
entsprechende Jahres- bzw. Lebensarbeitszeit sind genug.
Dies ist keine
starre Norm, sondern eine neue gesellschaftliche Orientierung. Ein
Perspektivwechsel und eine neue Zielmarke für Politik, Tarifparteien,
Unternehmen und Individuen. Bei der konkreten Umsetzung sind - neben den
jeweiligen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt - die persönlichen Bedürfnisse und
Wünsche der Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen zu berücksichtigen.
Geschlechterdemokratie für Männer, Frauen und Kinder gehört zur neu zu denkenden
Arbeitszeit. Wenn beispielsweise Kinder klein oder Alte pflegebedürftig sind,
könnten Männer und Frauen kürzer arbeiten, zu anderen Zeiten länger. Im
Durchschnitt aber sollten die Arbeitszeiten die gesellschaftliche Zielmarke der
30-Stunden-Woche anstreben. Bei weiterem Fortschritt der Arbeitsproduktivität
könnten die durchschnittlichen Arbeitszeiten langfristig weiter gesenkt
werden.
In Ländern mit durchschnittlich kurzen Arbeitszeiten ist die
Arbeitslosigkeit relativ gering. Nirgendwo in Europa arbeiten die Beschäftigten
durchschnittlich so kurz wie in den Niederlanden. Dort lag die durchschnittliche
tatsächliche Wochenarbeitszeit (einschließlich Teilzeitarbeit) im Jahre 2004 bei
nur 29,8 Stunden gegenüber 35,5 Stunden im Durchschnitt der 15 alten EU-Länder.
Gleichzeitig gehörte in den Niederlanden die Arbeitslosenquote mit 4,6 Prozent )
zu den niedrigsten, während der Durchschnittswert bei 8,0 Prozent lag. Ein
ähnliches Bild zeigt sich in unterschiedlichen Kombinationen in Dänemark und
Schweden.
Solidarische Arbeitszeitverkürzung ist ein Weg, Beschäftigung
zu sichern und Entlassungen zu vermeiden. In der deutschen Metall- und
Elektroindustrie wurden bereits 1994 Tarifverträge abgeschlossen, auf deren
Grundlage die Arbeitszeit betrieblich bis auf 28,8 Wochenstunden abgesenkt
werden kann, um knappe Arbeit auf mehr Köpfe zu verteilen und Arbeitsplätze zu
sichern. Bereits über 20 Prozent aller Unternehmen in der deutschen Metall- und
Elektroindustrie haben zeitweise Arbeitszeiten nach diesem Modell verkürzt.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass die große Mehrheit von Geschäftsleitungen
und Betriebsräten ihre Erfahrungen mit beschäftigungssichernder
Arbeitszeitabsenkungen positiv bewerten.
Auch in anderen Branchen, z.B.
in großen Zeitungshäusern, wurde die Arbeitszeit verkürzt und bereits bis auf 32
Stunden gesenkt. In Kindertagesstätten und Schulen wurden ebenfalls schon
Arbeitszeiten abgesenkt, um in einer solidarischen Aktion zu verhindern, dass
KollegInnen ihre Arbeitsplätze verlieren.
Wir wissen aufgrund der
deutschen und europäischen Erfahrungen, wie schwer es ist, tatsächlich neue
Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist ein großes gesellschaftliches Projekt, eine
zentrale Aufgabe für heute und für die nächsten Generationen, um ihnen
gesellschaftliche und erwerbsmäßige Teilhabe zu ermöglichen. Es bedarf einer
großen politischen, kollektiven und individuellen Anstrengung und eines
Machtzuwachses, um gegen die mächtigen Kapitalinteressen eine radikale
Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen.
Wenn bei einer solidarischen
Umverteilung von Erwerbsarbeit nicht nur Entlassungen vermieden, sondern die
durch Arbeitszeitverkürzung frei werdende Arbeitszeit für Neueinstellungen
genutzt wird, verteilen sich Arbeitszeit und Einkommen auf mehr Menschen. Die
Zahl der Beschäftigten steigt.
Wir plädieren für Arbeitszeitverkürzungen
mit sozial gestaffeltem Einkommensausgleich. Für obere Einkommensgruppen,
Singles ohne Unterhaltsverpflichtungen oder Paare mit zwei vollen Einkommen
scheint der vorgeschlagene Tausch von Geld gegen freie Zeit in der Regel auch
ohne Lohnausgleich vertretbar. Denn in oberen Einkommensgruppen ist ein gutes
Leben mit mehr Zeitwohlstand auch auf der Basis des Verdienstes von kürzeren
Arbeitszeiten möglich.
Für weniger Verdienende und Menschen mit
Unterhaltspflichten sind aber finanzielle Ausgleiche zu schaffen. Wir schlagen
vor, den Lohnausgleich dadurch zu finanzieren, dass die durch die Verringerung
von Arbeitslosigkeit freiwerdenden Mittel für Ausgleichszahlungen an Bezieher
niedriger und mittlerer Einkommen eingesetzt werden.
Menschliche Arbeit
ist nicht nur und nicht notwendigerweise Erwerbsarbeit. Aber die Verkürzung und
Neuverteilung von knapper Erwerbsarbeit ist ein wesentliches Element für eine
neue Arbeitspolitik, die auf gesellschaftliche Solidarität und die Überwindung
der Massenarbeitslosigkeit gerichtet ist.
Hierzu gehören als weitere
Bausteine
- ein oberhalb der Armutsgrenze angesiedelter gesetzlicher
Mindestlohn,
-die Möglichkeit, sich - öffentlich unterstützt - in
gesellschaftlich nützlichen Aufgabenfeldern selbst Arbeitsplätze zu
schaffen,
- ein nicht an Erwerbsarbeit gebundenes existenzsicherndes
Grundeinkommen.
Eine Politik der Neuverteilung von Arbeit setzt den durch
Massenarbeitslosigkeit verursachten Existenzängsten vieler Menschen ein
positives, auf Solidarität gerichtetes Projekt entgegen. Sie ist mehr als nur
Tarifpolitik und erfordert auch neue Wege, den Zeitgewinn kreativ zu nutzen: für
ehrenamtliches Engagement, für Allgemeinbildung, künstlerisches Schaffen,
Spiritualität, mehr Zeit für Kinder, Sport und Gesundheitspflege.
Das
Tabu brechen
Die neue "Arbeitsfairteilung" ist kein bereits vollständig
fixiertes, einfach anzuwendendes Rezept. Wir verkennen auch nicht die
ideologischen Vorbehalte, politischen Hemmnisse und praktischen
Umsetzungsprobleme. Entscheidend ist der politische Wille, den Skandal
Massenarbeitslosigkeit ernsthaft anzugehen, auch wenn das heißt, sich der
Diktatur der Märkte und ihrer Nutznießer entgegenzustellen. Noch einmal:
Massenarbeitslosigkeit ist nicht eins unter vielen Problemen. Es ist das
Problem. Viele Fragen sind offen und müssen in gesellschaftlichen, betrieblichen
und individuellen Diskursen thematisiert und gelöst werden. Einige Ansatzpunkte
und Handlungsschritte können aber schon benannt werden:
- Statt der
Verlängerung gehört die Verkürzung der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeiten
auf die Tagesordnung von Politik, Tarifparteien und Medien. Ziel ist die
Durchsetzung der 30-Stunden Woche bis 2010 überall in Europa.
-
Freiwillige Teilzeitarbeit ist in den verschiedensten Formen zu ermöglichen,
gesellschaftlich und betrieblich aufzuwerten, finanziell zu fördern und sollte
von möglichst vielen Menschen genutzt werden können.
- Überstunden sind,
wo immer möglich, abzubauen.
- Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit, z.B.
zur Betreuung von Kindern oder Alten, für Weiterbildung, für bürgerschaftliches
Engagement und für originelle Projekte sollten erleichtert, negative Folgen für
die zeitweilig aussteigenden Individuen möglichst ausgeschlossen
werden.
- Beschäftigungsbrücken zwischen alten und jungen Menschen können
- bei entsprechender Ausgestaltung - mit geringen finanziellen Aufwendungen die
Arbeitslosigkeit junger Menschen erheblich mindern. Solche Modelle sind zu
erhalten, weiterzuentwickeln und bedarfsgerecht auszubauen.
- Kürzere
Arbeitszeiten sind auch finanziell aufzuwerten. Wenn Menschen einen Teil ihrer
Arbeitszeit und ihres Einkommens abgeben und dadurch anderen den Einstieg in
Erwerbsarbeit möglich machen, ist das positiv anzuerkennen und auch materiell zu
fördern. Die Grundidee ist einfach: Die mit besonders langen Arbeitszeiten
erzielten hohen Einkommen werden steuerlich und/oder bei den Sozialabgaben
stärker belastet (Malus), kürzere Arbeitszeiten dagegen von Einkommenssteuer
und/oder Sozialabgaben entlastet (Bonus).
Eine neue solidarische
Arbeitszeitpolitik ist auch jenseits von Tarifpolitik eine ernsthafte
gesellschaftspolitische Herausforderung für
- globalisierungskritische
Bewegungen,
- eine europäische und globale Politik von Gewerkschaften
und
- ein breites Bündnis von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und
neuen politischen Initiativen.
Es geht darum, das Tabu zu brechen, dass
das Thema Arbeitzeitverkürzung und die faire Verteilung von Arbeit und Einkommen
umgibt. Die Erfolgschancen für eine neue solidarische Arbeitspolitik sind um so
größer, je mehr Menschen sich dafür einsetzen - als Individuen, in Unternehmen,
Gewerkschaften, Kirchen, sozialen Bewegungen und in der Politik. Überall in
Europa.
Wir wenden uns daher gleichermaßen an konservativ, christlich,
sozial, ökologisch oder sozialistisch orientierte Menschen und Organisationen
und bitten sie, sich dafür einzusetzen, dass das gesellschaftliche Projekt der
solidarischen Umverteilung der Arbeit auf die politische Tagesordnung gesetzt
wird.