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Wilhelm Nestle (Okt. 2004)

E-Mail: nidulus@web.de

 

Grundeinkommen

 

Der Glaube, daß es zu Hartz 4 keine Alternative gebe, ist weit verbreitet. Für diesen Glauben braucht man zwei Scheuklappen. Einmal scheinen die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft es für ein Naturgesetz zu halten, daß das Kapital immer weniger zum Gemeinwohl beisteuert, während seine Gewinne astronomisch steigen. Die andere Scheuklappe ist die Fixierung auf die Lohnarbeit. Unsere Regierung läßt sich immer noch von der Wirtschaft suggerieren, durch Vollbeschäftigung ließen sich unsere Probleme lösen.

Aber diese Prämisse stimmt nicht mehr. Unsere Wirtschaft ist so produktiv geworden, daß immer weniger Menschen nötig sind, um die Güter für das Leben zu produzieren. Vollbeschäftigung bei einer Wochenarbeitszeit von 35 oder noch mehr Stunden wird immer mehr zur Illusion. Damit wird die Basis unserer beitragsfinanzierten Sozialsysteme immer schmaler. Es gibt nicht mehr genug Lohnarbeit für alle, obwohl es immer mehr Reichtum, immer mehr Güter gibt. Lohnarbeit kann nicht mehr die Existenz aller Menschen sichern. Wir müssen die Scheuklappen ablegen und nach Alternativen suchen. Eine Alternative wäre das garantierte Grundeinkommen.

 

Die Idee ist nicht neu. Schon 1966 veröffentlichte R. Theobald in New York einen Sammelband mit dem Titel The Guaranteed Income. Next Step in Economic Evolution?  Erich Fromm hat darin einen Beitrag zu den psychologischen Aspekten des garantierten Grundeinkommens veröffentlicht, auf den ich noch kommen werde. Die Veröffentlichungen und Vorstellungen auch in Deutschland sind inzwischen unübersehbar. Und verwirrend sind auch die verschiedenen Begriffe, die da umherschwirren. Die wichtigsten seien kurz genannt:

·         Mit Existenzsicherung wird oft unsere gegenwärtige soziale Absicherung bezeichnet.

·         Was gegenwärtig mit Hartz und Agenda 2010 angestrebt wird, heißt offiziell “Grundsicherung für Arbeitssuchende”.

·         CDU und FDP sprechen von  Bürgergeld. Es soll jedem Bürger ausbezahlt werden, falls man ihm keine Arbeit anbieten kann. Schlägt er jedoch ein Angebot aus, verfällt sein Anspruch.

·         Negative Einkommenssteuer: Wer nichts oder zu wenig verdient, kann keine Steuern zahlen sondern bekommt von Finanzamt soviel ausbezahlt, wie er zum Leben braucht.

·         Garantiertes Grundeinkommen. Um dieses geht es im Folgenden.

Am 9. Juli 2004 wurde in Berlin ein “deutsches Netzwerk Grundeinkommen” gegründet. Vier Kriterien werden genannt

1.      Existenzsichernd

2.      Individueller Rechtsanspruch. Es soll also beispielsweise unabhängig davon gezahlt werden, was mein Lebenspartner verdient

3.      Keine Bedürftigkeitsprüfung

4.      Kein Zwang zur Arbeit

Die Kampagne “Genug für alle” von Attac hat diese Kriterien übernommen und als 5. Hinzugefügt: Es soll für alle gelten, also z.B. auch für Migrant(inn)en.

Jede und jeder bekommt einen monatlichen Grundbetrag ausbezahlt, der ihr bzw. ihm ein Leben in Würde ermöglicht. Wolfgang Kessler schlägt 700 Euro vor. Sabine Leidig, Bundesgeschäftsführerin von attac, meinte bei unserer Montagsdemo, 800 bis 900 Euro.

 

Das Grundeinkommen steht dem Menschen zu, einfach, weil er ein Mensch ist, ohne irgendwelche Bedingungen. Ralf Dahrendorf fordert, daß es im Grundgesetz verankert werden müßte. Denn Freiheit und Menschenwürde bleiben abstrakt, wenn dafür die materielle Voraussetzung fehlt. Die Angst, mit dem Arbeitsplatz die materielle Basis des Lebens – aber auch die gesellschaftliche Anerkennung – zu verlieren, ist ein fast ebenso starkes Zwangsinstrument wie die Einschränkung der eigenen Meinungs- und Bewegungsfreiheit durch äußere Gewalt.

 

Ein Rußland-Deutscher, der in den 80iger Jahren in die damalige BRD gekommen war, sagte mir einmal: Ich war in der Sowjetunion in einem Arbeitslager gewesen. Aber ich habe damals vor den Natschalniks weniger Angst gehabt als heute vor meinem Arbeitgeber, obwohl der mich weder schlagen darf noch ins Gefängnis bringen kann.

 

Unsere gegenwärtige Existenzsicherung unter anderem durch Sozialhilfe läßt zwar niemanden verhungern und sorgt auch sonst für elementare Bedürfnisse. Beim Grundeinkommen geht es aber um mehr als nur um das bloße Überleben. Es soll auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Für die Vertreter(innen) dieser Idee gehört es zur Menschenwürde, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten - und auch seine Tätigkeit bzw. seinen Arbeitsplatz frei wählen zu können. Vor allem aber: Es ist Menschenrecht und an keine Bedingung gebunden.

 

Insofern zielen Grundeinkommen und unsere Sozialhilfe in entgegengesetzte Richtungen. Grundeinkommen will den einzelnen instand setzen, das zu tun was er für sinnvoll hält. Sozialhilfe sichert das Überleben, wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, die notwendigen Mittel für den Lebensunterhalt zu erwerben. Sie stigmatisiert die Empfänger. Und sie wird bewusst so unattraktiv gehalten, dass die Empfänger “motiviert” werden, vorhandene Arbeiten anzunehmen, egal, wie sie gestaltet sind.
Hartz 4 verändert unser Sozialsystem weiter in diese Richtung. Die “Zumutbarkeitsregeln” werden deutlich verschärft. Arbeitslose werden sehr viel schneller auf Sozialhilfeniveau gedrückt. Und wenn sie eine Arbeit nicht annehmen, dann verlieren sie auch den Anspruch darauf. Hartz 4 ist ein Instrument, die Menschen dazu zu zwingen, jede beliebige Arbeit anzunehmen - wesentlich schlechter bezahlt. Das heißt, diese Art der Existenzsicherung liefert die Arbeitnehmer den Arbeitgebern total aus. Attac vermeidet deshalb den Begriff “Existenzsicherung”, weil er vom gegenwärtigen System besetzt ist. Es bedeutet Zwang. Garantiertes Grundeinkommen bedeutet Freiheit.

 

Da können sich faszinierende Perspektiven auftun. Anstatt mich mit einer Arbeit abzuquälen, die mir nicht liegt, werde ich lieber meine Mutter pflegen. Oder wenn ich/wir heranwachsende Kinder haben, dann kann ich mich frei entscheiden, daß es mir jetzt wichtiger ist, für sie da zu sein, als mich am Produktionsprozeß zu beteiligen. Ich kann versuchen, ob meine künstlerischen Träume vielleicht Wirklichkeit werden können. In der neu gewonnenen Freiheit kann Kreativität wachsen. Viele Talente, die jetzt brach liegen, könnten Leben entwickeln.

 

Das garantierte Grundeinkommen bedeutet aber auch ein Stück Würdigung von Arbeiten, für die heute nichts bezahlt wird wie Kindererziehung, Haushalt, Ehrenamtliches Engagement, Künstlerische Betätigung.

Gesellschaftspolitische Einordnung

Die industrialisierte Welt sei im Begriff, in ein neues Zeitalter des ökonomischen Überflusses einzutreten, schreibt Fromm schon 1966. Das gilt allerdings auch heute noch nur für den reichen Norden – und da auch für immer weniger Menschen. Aber ein Überfluß an materiellen Gütern für die alle Menschen auf der Erde ist heute zumindest denkmöglich geworden. Damit wäre eigentlich die Voraussetzung für eine materielle Basis des Grundeinkommens gegeben. Es wird oft gesagt, das sei ein Bruch mit dem “biblischen Grundsatz: “Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.” Dieser Satz steht zwar – wie so manches -  in der Bibel (2. Thess 3,10), aber er ist in meinen Augen keine zentrale biblische Wahrheit. Er drückt einfach die Gegebenheiten der vorindustriellen Zeit aus. Da war es eine äußere Notwendigkeit, daß die große Mehrzahl der Menschen sich an der Produktion der Güter beteiligte, um Hunger und sonstige Not abzuwehren.

 

Auch Karl Marx sah ja im technischen Fortschritt die Voraussetzung für die Revolution des Proletariats. Und gerade in diesem Zusammenhang fasziniert mich das Modell des garantierten Grundeinkommens. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in einer Welt gelebt, in der sich Marktwirtschaft und Planwirtschaft in zwei Blöcken mit unüberwindlichen Feindbildern gegenüber standen. Und die damit aufgeworfene Frage ist geblieben: Können die Vorzüge beider Systeme in Verbindung gebracht werden? Sind Profitprinzip und Bedarfsprinzip unversöhnliche Gegensätze oder gibt es eine Synthese.

 

Die – sozial abgefederte - Marktwirtschaft hat uns das deutsche Wirtschaftswunder beschert. Und das Profitstreben wurde durchaus auch als ein Stück Freiheit gegenüber der sozialistischen Planwirtschaft erlebt. Die Hypothese von Adam Smith, daß gerade das Streben nach dem eigenen Vorteil dazu führt, daß das Kapital dort eingesetzt wird, wo es auch dem ganzen Land den größten Nutzen bringt, hat sich in dieser Situation bewahrheitet.

 

Ein Gespräch mit einem jungen Mann, der in den 80igern aus Rumänien zu uns gekommen war, hat sich mir sehr eingeprägt. “Wenn ich hier mehr arbeite, eigene Initiative entwickle, dann habe ich was davon. In Rumänien machte das für meinen eigenen Vorteil keinen Unterschied.”

 

Inzwischen erleben wir, daß nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus der Kapitalismus immer unverhüllter sein lebensfeindliches Gesicht zeigt. Auf ökologische und soziale Bedürfnisse nimmt er keine Rücksicht. Chesterton hat gesagt: Kapitalismus und Sozialismus haben beide kein Verhältnis zum Eigentum. Der Sozialismus leugnet es überhaupt, und der Kapitalismus leugnet seine Grenzen. Wie kann eine Synthese aussehen?

Das Modell des garantierten Grundeinkommens wäre eine. Es ist erst einmal ein sozialistisches Element. Es geht vom Bedarf aus. Jeder Mensch bekommt, was er zum Leben braucht – aber auf bescheidenem Niveau. Dafür muß er nichts leisten. Wenn er aber etwas darüber hinaus erwerben will, dann muß er sich in die Welt des Marktes mit seinem Profitprinzip begeben.

 

Das Grundeinkommen wäre aber ein Beitrag dafür, das Ungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu verringern. Das verschiebt sich ja gerade immer mehr zugunsten der Arbeitgeber. Wer durch das Grundeinkommen abgesichert ist, ist für den Arbeitgeber ein souveränes Gegenüber. Er bzw. sie ist nicht gezwungen, ihre Arbeitskraft bedingungslos zu verkaufen. Sie kann sie rar machen. Das verlangt vom Arbeitgeber, das Arbeitsangebot attraktiver zu gestalten.

 

 

Wie soll dieses Grundeinkommen finanziert werden?

Wolfram Otto von der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialhilfeinitiativen hat eine detaillierte Berechnung vorgelegt. Er betont, daß es sich um keine konkrete Forderung handle, sondern um ein Konzept, das belegen soll, daß das Grundeinkommen finanzierbar wäre. Die Zahlen müßten jährlich neu angepaßt werden.
Für 2002 sah er ein Grundeinkommen von 800 Euro pro Person vor. Dazu käme ein Wohngeld von durchschnittlich 260 Euro, die nach dem Mietspiegel etwas variieren würden.
Wie wird das bezahlt?

Erstens zum großen Teil durch eine 50%ige Abgabe ( "Take-half") auf alle Netto-Einkommen, gleich welcher Art und Höhe, also auch auf Unternehmer-Tätigkeit und Vermögenseinkommen. Diese Abgabe ist zweckgebunden und keine Steuer und steht dem normalen Staatshaushalt nicht zur Verfügung !

Umschichtung bisheriger Sozialleistungen:
- Die Sozialhilfe inklusive der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
– Arbeitslosenhilfe
– Kindergeld
– Erziehungsgeld
– BaföG
– Ausbildungsbeihilfen

Bisherige Sozialabgaben von Arbeitnehmern und Arbeitgebern

Erbschaftssteuer

Schließlich geht Otto davon aus, daß dadurch die Binnennachfrage gestärkt, also die Wirtschaft gefördert würde.

Auf diese Weise errechnet er Einnahmen von 1839 Milliarden Euro. An Ausgaben hat er 1826 Milliarden Euro errechnet. Zwei Drittel der Bevölkerung hätten dadurch real Vorteile bzw. keine Verluste.

 

Es gibt verschiedene Finanzierungsmodelle. Oft verweist man oft lapidar auf den “gigantischen Reichtum”, der sich in der Tat angesammelt hat.

 

Probleme des Wirtschaftswachstums

Bei der Finanzierung wird also als sicher unterstellt, daß genügend Geld vorhanden ist. Soweit ich sehe, wird dabei vorausgesetzt, daß wir weiter wirtschaften wie bisher. Und das bedeutet, daß die Weltwirtschaft auch weiter in den bisherigen Raten wächst. Aber eben diese Voraussetzung wird bei attac inzwischen in Frage gestellt. Markus Göker hat dazu einen Text von Stratman-Mertens in die Mailingliste gestellt. In Iserlohn hat zu Beginn des Monats eine Tagung zu eben diesem Thema stattgefunden. Mir leuchten diese Zweifel ein. Der Reichtum konzentriert sich auf einen kleinen Teil der Erde. Die Mehrheit ist vom Lebensstandard des Überflusses noch weit entfernt. Und den westlichen Standard kann sich die ganze Welt nicht leisten. Der ökologische Kollaps wäre die Folge. Laut dem Umweltprogramm der UNO müssen die Industrieländer ihren Rohstoffverbrauch um 90% senken, wenn sich auf der Welt die natürlichen Ressourcen einigermaßen gerecht verteilt werden sollen. Ich kann mir schwer vorstellen, daß dies allein durch den technologischen Fortschritt zu bewältigen ist. Die reichen Industrieländer werden nicht wie bisher auf Fortschreibung ihres Wirtschaftswachstums setzen können, da dieses die Umwelt zerstört oder/und weltweite Gerechtigkeit verhindert.

Damit ist für mich dieses Modell nicht widerlegt. Aber die Finanzierung ist wohl ein größeres Problem, als dies bis jetzt eingeschätzt wird. Wer den Eindruck erweckt, das garantierte Grundeinkommen sei spielend zu finanzieren, wenn man das Geld nur gerecht verteilt, könnte die Idee diskreditieren, weil er die Realität überspringt. Das heißt bestimmt nicht, daß man dieses Modell nicht mehr verfolgen sollte. Aber wir werden uns den Kopf noch mit vielen Rechnungen zerbrechen müssen, um es auch wirtschaftlich umzusetzen. Denn es darf nicht auf Kosten der Natur und der armen Länder geschehen.

 

 

Psychologische Aspekte

Dazu gibt es, wie schon gesagt, einen sehr interessanten Text von Erich Fromm aus dem Jahr 1966. Er ist ein Plädoyer für das garantierte Grundeinkommen, geht aber auch auf die Bedenken ein, die dagegen vorgebracht werden.

Der nächstliegende Einwand ist natürlich die Angst, daß die Motivation für die Arbeit wegfallen würde. “Wenn wir fürs Faulenzen bezahlt werden, wer arbeitet dann noch?” ist oft die erste  Reaktion. Gegenfrage: Wäre es nicht sogar ganz gut, wenn die Menschen nicht mehr so aufs Arbeiten fixiert wären? Es gibt doch gar nicht mehr genug Arbeit für alle. Bleibt die

Frage, ob sich genügend Menschen finden würden, die das tun, was getan werden muß, z.B. Müllabfuhr, oder Pflege in Altenheimen. Dazu ist zweierlei zu sagen.

 

1. Markt und Profit sind ja nicht abgeschafft. Unbeliebte Arbeit müßte eben attraktiv gestaltet werden

Ø      Durch entsprechende Gestaltung der Arbeit und

Ø      durch gute Bezahlung

Zum Beispiel die Arbeit in Pflegeheimen: Ich habe in den Achtziger-Jahren ein Pflegeheim betreut. Da herrschte ein sehr gutes Betriebsklima. Die Mitarbeiter(innen) waren erfüllt von ihrer Arbeit, obwohl sie auch damals schon schlecht bezahlt waren. Inzwischen hat sich in vielen Pflegeheim die Arbeitssituation dramatisch verschlechtert, einfach weil zu viel Arbeit auf zu wenige Schultern verteilt ist. Zeit für Menschlichkeit kommt in den ökonomischen Berechnungen nicht vor.

 

2. Materieller Anreiz ist keineswegs das einzige Motiv, weshalb Menschen arbeiten und sich anstrengen. Fromm listet eine ganze Reihe anderer Motive auf:

·        Künstler legen oft geradezu eine Tätigkeitswut an den Tag, wenn sie eine Vision haben, die sie verwirklichen wollen. Und zunächst fragen sie überhaupt nicht danach, ob der Markt sich dafür interessiert. Fromm nennt als Motivation Interesse, Stolz, Anerkennung. Das scheint mir nicht das eigentliche zu sein. Wie der Vogel singt, so spürt der Künstler oder die Künstlerin einen inneren Drang, Wirklichkeit werden zu lassen, was sie innerlich sieht oder hört.

·        Im Sport engagieren sich viele Menschen bis an die Grenzen ihrer Kraft. Und viele auch ohne daß sie dafür Geld bekommen.

·        Professor Mayo habe in seiner klassischen Untersuchung in den Chicagoer Hawthorne-Werken der “Western Electric Company” nachgewiesen, daß das Interesse am Arbeitsprozeß selbst ein Antrieb zur Arbeit sein kann.” (E. Mayo, 1933). Allein die Tatsache, daß man ungelernte Arbeiterinnen bei dem Experiment, das ihre Arbeitsproduktivität betraf, selbst heranzog und sie durch ihre Beteiligung zu interessierten, aktiven Teilnehmern wurden, führte zu einer höheren Produktivität, ja sogar zu einem besseren Gesundheitszustand.

·        Fromm führt noch Preußische Beamte an. “Die Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit der traditionellen preußischen Beamten war berühmt, obwohl sie sehr schlecht bezahlt wurden; in diesem Fall waren Begriffe wie Ehre, Treue und Pflichterfüllung die entscheidenden Antriebe zu guten Arbeitsleistungen.” (S. 3)

·        Was ich Fromms Aufzählung noch hinzufügen möchte, ist die Erziehung der Kinder. Die wird ja auch in den Familien ohne Bezahlung geleistet. Trotzdem ist die Motivation im Durchschnitt sehr hoch. Wo es nicht so ist, dürften meistens pathologische soziale Entwicklungen die Ursache sein.

·        Last not least die unübersehbare Landschaft der ehrenamtlichen Arbeit.

 

Fromm beobachtet allerdings bei vielen Menschen in seiner Umgebung eine Sehnsucht nach Nichtstun. Er qualifiziert diese Sehnsucht jedoch als “Symptom unsere Pathologie der Normalität” der entfremdeten Menschen.

 

Manchmal wird auch argumentiert, es liege in der Natur des Menschen, tätig zu sein. Ganz so einfach ist das mit der Natur des Menschen nicht, glaube ich. Sie ist nicht einfach unabhängig von ihrer Umgebung vorhanden. Das ist zu mechanisch gedacht. Die seelische Konstitution eines Menschen ist das Ergebnis von genetischen Anlagen und der Entwicklung durch Erziehung und zahlreiche andere Einflüsse. Wer ich bin, ist auch von meiner sozialen Umgebung abhängig. Was gesellschaftlich akzeptiert ist, hat großen Einfluß darauf, wovon und für was ich mich motivieren lasse. Meine seelische “Natur” hat sozusagen einen individuellen und einen sozialen Aspekt. Die “Natur” der Menschen würde ich mit dem großen Ökosystem in der physischen Natur vergleichen. Auf verschiedenen Ebenen sind wir auch psychosoziale Ökosysteme. Wir Menschen einer Familie bilden ein psychosoziales System, - ebenso wir Menschen einer Gemeinde, einer Stadt, eines Landes. Ja, ich würde sogar sagen, die Menschheit bildet weltweit ein großes psychosoziales System. Da hängt alles mit allem zusammen. Wenn ich an einer Stelle etwas ändere, hat das Auswirkungen an vielen anderen Stellen, - oft solchen, an denen wir es nicht erwartet hätten.

 

Sie kennen vielleicht das Beispiel der artesischen Brunnen in der afrikanischen Steppe. Es herrschte immer wieder Wassermangel. Da kamen die europäischen Ingenieure mit ihrem Wissen über den unterirdischen Wasserverlauf und gruben artesische Brunnen. Das beabsichtigte Ziel wurde zunächst erreicht. Es war immer genügende Wasser da für Mensch, Vieh und auch andere Bedürfnisse. Aber der Grundwasserspiegel sank und die Vegetation begann zu dürsten. Die Nahrungsgrundlage war in Gefahr. Ähnlich verhält es sich nach meiner Überzeugung mit den psychosozialen Ökosystemen. Ein Eingriff hat Auswirkungen an verschiedenen Stellen. Viele lassen sich nicht vorhersehen.

 

Ein garantiertes Grundeinkommen wäre ohne Zweifel ein tiefgreifender Eingriff in unser soziales System. Und die Auswirkungen können wir in vollem Umfang wohl kaum ahnen. Damit rede ich nicht gegen diese Vision. Wir können gar nicht anders, als unser soziales System auch aktiv zu gestalten und wir tun es ja auch, seit es menschliche Kultur gibt. Was zur Zeit durch die neoliberalen Akteure geschieht und beabsichtigt ist, greift in brutalster Weise in unser soziales System ein, - ohne Rücksicht auf das, was die menschliche Natur braucht. Blindlings zerstören sie menschliche Bindungen und Grundlagen. Und das formt die Menschen. Fromm hat schon 1966 diagnostiziert: “Die Industriegesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts hat diesen neuen psychologischen Typ, den homo consumens, in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen geschaffen, d. h. um des notwendigen Massenkonsums willen, der durch die Werbung stimuliert und manipuliert wird.” S.4 Fromm meint, daß das garantierte Grundeinkommen als isolierte Maßnahme kaum die erwünschte radikale Wirkung hätte. Es bedürfe noch der Anstrengung auf verschiedensten Gebieten, um  die Menschen von der Konsumsucht zu heilen.

 

Wie gesagt, das ist überhaupt kein Einwand gegen die Idee des garantierten Grundeinkommens. Ich sehe darin durchaus ein Instrument, das dazu beitragen kann, die seelischen Verwüstungen, die der Neoliberalismus anrichtet, zu heilen. Ich möchte nur sagen: Wir sollten es uns nicht zu idyllisch vorstellen. Wir können schwer voraussagen, welche Probleme durch Einführung eines garantierten Grundeinkommens gelöst werden und welche neu entstehen könnten. So suggeriert ein Entwurf von Pax Christi, daß mit der Einführung des garantierten Grundeinkommens automatisch das Selbstwertgefühl der Menschen steigen und der Drogenkonsum zurückgehen werde. Das kann sein. Aber sicher wissen können wir das nicht. Wir stehen immer in Versuchung, zu meinen, durch soziale Veränderungen das Paradies herzustellen. Und das ist eine Illusion. Darin sehe ich auch eine Ursache dafür, daß der real existierende Sozialismus gescheitert ist. Marx träumte davon, wenn das Produktiveigentum in die Hände des Proletariats kommt, dann arbeitet jeder zwei Stunden und jeder kann sich nehmen, was er braucht und wünscht. Das Paradies auf Erden sollte das werden. Und als es sich nicht einstellte, suchte und fand man Sündenböcke innerhalb und außerhalb der eigenen Gesellschaft.

 

Man kann natürlich versuchen, sich Szenarien auszumalen. Ethnologische Studien könnten anregendes Material liefern. Dazu bin ich nicht gekommen. Ich versuche jetzt am Schluß nur ein kleines Gedankenexperiment, indem ich die Biographien zweier berühmter Männer vergleiche.

 

Sören Kierkegaard gehört zu den Vätern des modernen Existentialismus. Schon als junger Mensch sagte er: “Ich werde nie für meinen Lebensunterhalt arbeiten müssen.” Das “wußte” er intuitiv. Und so war's. Er hatte ein ziemliches Vermögen geerbt. Als er gestorben war stellte man fest, daß es gerade eben aufgebraucht war. Seine Bücher, die später die Philosophie grundlegend beeinflußten, interessierten seine Zeitgenossen kaum. Er gab sie alle selber heraus unter Pseudonymen. Er hatte sein Grundeinkommen, sogar ein recht großzügiges. Er konnte sogar seine Bücher herauszubringen, was damals noch teurer war als heute. Die materielle Absicherung  ermöglichte ihm sein Werk, das unsere Geistesgeschichte nachhaltig beeinflußt hat.

 

Das andere Beispiel: Jakob Böhme: Er lebte als Schuhmacher in Schlesien. Obwohl er kaum Schulbildung genossen hatte, war er ein tiefer, sehr eigenständiger Denker. Er war auch Mystiker mit eindrucksvollsten Visionen, die er in seiner knapp bemessenen Freizeit aufschrieb. Auch er hatte großen Einfluß auf die Geistesgeschichte. Hegel, aber auch C. G. Jung haben fasziniert auf ihn zurückgegriffen. Er litt sehr darunter, daß er so viel Zeit und Kraft für seinen praktischen Lebensunterhalt aufwenden mußte. Da fand sich eine adlige Dame, die ihn sehr verehrte und ihm eine Rente aussetzte, von der er leben konnte. Aber was war der Erfolg? Er wurde ein wehleidiger, zurückgezogener Mensch und verfaßte vergleichsweise kaum noch bedeutende Werke. Es sieht so aus, als ob der harte Existenzkampf kein schlechter Boden für seine geistige Fruchtbarkeit war.

 

Beide waren sehr ungewöhnliche Menschen. Und die Schlüsse, die ich daraus ziehe, können bestimmt nicht als gesicherte Erkenntnis gelten. Nur ein paar Gedanken: Die Menschen sind sehr verschieden und reagieren sehr verschieden. Was den einen zu Kreativität befreit, läßt den anderen versacken. Grundsätzlich aber glaube ich, daß beides zum Menschsein gehört: Die Erfahrung, ich bin angenommen, akzeptiert. Ich habe ohne Vorleistung ein Recht auf Leben mit allem, was es beinhaltet und was – auch materiell - dazu gehört. Und die andere Erfahrung: das Leben will auch erkämpft werden, individuell und gemeinsam in der Gemeinschaft. Das sind die dialektischen Pole, die die Spannung unseres Lebensgefühls ausmachen. In einem Leben, in dem keine Krise, keine Not überwunden werden mußte, fehlt etwas. Wir werden nicht automatisch glücklich, wenn man uns den Kampf ums tägliche Leben abnimmt. Und es ist nicht automatisch gesagt, daß wir unsre Angehörige pflegen, uns um unsere Kinder kümmern werden, wenn uns der Broterwerb nicht mehr davon abhält. Das kann sich einstellen, hängt aber von vielen Faktoren ab.

 

Eine Variante des leichtgläubigen Optimismus ist auch der Glaube, daß die Finanzierung des garantierten Grundeinkommens problemlos sei. Nein, so einfach wird es nicht gehen. Und vielleicht ist es sogar gut so, daß es nicht so einfach gehen kann. Vielleicht reift die Menschheit gemeinsam an der schwierigen Aufgabe, die Einführung des garantierten Grundeinkommens zu verwirklichen im Einklang mit der Natur und so, daß es allen Menschen auf der Welt zu Gute kommen wird.

 

Tübingen, 28. Oktober 2004