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Text aus:

Blätter für deutsche und internationale Politik

April 1995

ISSN 0006-4416

Seite 476 - 485

 

 

 

Citizens' Income und Bürgerrecht

 

Ein Plädoyer für die Grundeinkommen-Demokratie

 

Von David Purdy

 

Mit Beiträgen von Gerhard Bäcker und Johannes Steffen über „Negativsteuer, Bürgergeld und die Folgen" (1/1995) sowie von Friedhelm Wolski-Prenger („Ausweg aus der Armutsfalle? Zur Diskussion um Mindesteinkommen und Arbeitsmarkt", 1/1994) haben die „Blätter“ sozial- und gewerkschaftspolitische Aspekte einer Debatte behandelt, deren Implikationen für eine zeitgemäße Demokratie- und Bürgerrechtspraxis erheblich sind. Letztere stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit des britischen Ökonomen und Sozialwissenschaftlers David Purdy. Bei dem folgenden Text handelt es sieh um die „Blätter"-Fassung eines wesentlich umfangreicheren Essays, der in englischer Sprache in der zweimonatlich erscheinenden „New Left Review", London, veröffentlicht wurde (Nr. 208, November / Dezember 1994). Wir danken der NLR für ihr freundliches Einverständnis. D. Red.

 

 

 

 

Vorschläge für eine grundlegende Reform des Wohlfahrtstaates sind kein Privileg der radikalen Rechten. In den letzten Jahren überdenkt auch die Linke ihre Haltung zur Sozialpolitik. Besonders eine Idee hat die Phantasie Radikallibertärer, liberaler Sozialisten, sozial eingestellter Liberaler und kommunitaristischer Kritiker des liberalen Individualismus beflügelt. Innerhalb eines Systems von Steuern und Transferzahlungen, das unter dem Begriff Bürgereinkommen (Citizens' Income) bekannt wurde, würde der Staat allen Bürgern regelmäßige Bargeldzahlungen zukommen lassen, jede aus eigenem Recht des Empfängers, ohne Bedürftigkeitsprüfung oder Arbeitsverpflichtung.

 

Allgemeine Zuwendungen (universal grants) gelten ganz unterschiedlichen sozialphilosophischen Richtungen als nicht nur erlaubt, sondern zwingend geboten. Ich unterscheide zwischen Libertären, Kommunitaristen und Liberalsozialisten. (1) Libertäre berufen sich auf eine bestimmte Version der klassisch-liberalen Lehre vom Eigentum. Danach haben wir alle unveräußerliche Rechte an unserem eigenen Körper und sind berechtigt, sowohl über natürliche Ressourcen als auch über die Produkte, die wir hergestellt haben, zu verfügen, vorausgesetzt, wir achten die entsprechenden Rechte der anderen. Diese entscheidende Bedingung setzt der legitimen Reichweite privater Aneignung eine Grenze. Der radikaldemokratischen Variante liberaler Tradition gelten gemeinhin zwei Arten von Privateigentum als Überschreitung dieser Grenze: durch Erbschaft erworbener Wohlstand sowie derjenige Anteil am Bodenwert, der nicht Verbesserungen zuzuschreiben ist, die von den gegenwärtigen Eigentümern durchgeführt oder bezahlt wurden. Insofern ist der Staat berechtigt, solchen Besitz zu besteuern und die Erträge mittels einer Allgemeinen Zuwendung umzuverteilen.

 

Kommunitaristen behaupten, die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft sei mit der Anteilseignerschaft in einem Produktionsunternehmen vergleichbar. Wenn diese Analogie trifft, könnte es sein, daß alle Bürger zur Teilhabe am Ertrag jener produktiven Ressourcen berechtigt wären, welche Gemeingut der Gesellschaft insgesamt sind. Ich sage "könnte", da ergänzende Voraussetzungen nötig sind, um die Verteilung der „Sozialdividende" als allgemeine Zuwendung zu rechtfertigen, statt sie irgendeiner gemeinschaftlichen Verwendung zuzuführen. Der naheliegendste Rahmen für eine derartige Praxis wäre ein sozialistischer Staat, in dem alle oder fast alle Kapital- und Naturalressourcen der Öffentlichkeit gehören.

 

Sozialdividenden sind allerdings nicht - in welcher Weise auch immer - an das Gerüst einer Planwirtschaft gebunden. Es ließe sich beispielsweise sagen, daß einige der Einrichtungen, die zum Wohlergehen der Menschen beitragen, per se gemeinschaftlichen Charakter haben: die gesellschaftliche Arbeitsteilung und das Erbe von Wissenschaft und Kultur, das jede neue Generation von ihren Vorgängern übernimmt, sind hier hervorzuheben. Man könnte deshalb plädieren, es liege in der Natur der Sache, einen Teil des Sozialproduktes als Allgemeine Zuwendung zu verteilen.

 

Sowohl das libertäre Plädoyer für ein Anrecht qua Geburt als auch jene kommunitaristischen Argumente für eine Sozialdividende, welche sich auf die Herausarbeitung der Produktivität per se gemeinschaftlicher Güter stützen, werfen konzeptionell schwerwiegende Probleme auf. Zum einen gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, wie das Sozialprodukt zu definieren und zu messen sei. Zum anderen sind alle Versuche, mit Hilfe eines gesellschaftlichen Rechnungswesens zu schätzen, wieviel jeder einzelne „Produktionsfaktor" zum Sozialprodukt beiträgt, äußerst schwierig, weil der Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion den gemeinsamen und gleichzeitigen Einsatz einer Vielzahl materieller Ressourcen und kultureller Fertigkeiten erfordert. Weiterhin gelten naturrechtlich begründete Forderungen oder Gemeinschaftsansprüche vermutlich für alle Menschen bis in alle Zukunft.

 

Aber wenn die Gemeinschaft der Berechtigten die Menschheit selbst ist, so ist es unmöglich, die Einführung einer Allgemeinen Zuwendung in einem einzelnen Staat allein auf der Basis libertärer oder kommunitaristischer Vorstellungen zu rechtfertigen.

 

 

 

Ein liberal-sozialistischer Konsens

 

Keines dieser Probleme belastet die dritte Herleitung eines Anspruchs auf Allgemeine Zuwendungen. Der Liberal-Sozialismus erfordert keine Analyse der "Faktorproduktivität". Auch hängt er nicht von einem perfekten Standard an Verteilungsgerechtigkeit ab, obwohl er danach trachtet, etwas zu etablieren, das man als einen gerechtigkeitssuchenden Staat bezeichnen könnte. Und: Liberal-Sozialismus läßt sich in jeder Form etablierter politischer Gemeinwesen praktizieren, von einem einheitlichen Weltstaat bis zu Gemeinschaften der geographisch eingegrenzten Art.

 

Der Bindestrich-Begriff „Liberal-Sozialismus" charakterisiert wohl am besten eine im Entstehen begriffene Fusion zweier Traditionen, die das politische Denken seit der Französischen Revolution beherrschen. Historisch gesehen waren Liberale und Sozialisten öfter Feinde als Verbündete. In letzter Zeit wurde jedoch eine gewisse Annäherung sichtbar. Sozialisten, die dem klassischem Liberalismus kritisch gegenüberstehen, aber für persönliche Freiheit eintreten, haben begonnen, sich gedanklich mit denjenigen Liberalen zu treffen, die dem klassischen Sozialismus kritisch gegenüberstehen, aber für soziale Gerechtigkeit eintreten.

 

Es ist ebenso wichtig, die Unterschiede zwischen libertären, kommunitaristischen und liberal-sozialistischen Prinzipien hervorzuheben wie die Tatsache, daß sie alle eine Verpflichtung zu irgendeiner Form Allgemeiner Unterstützung beinhalten. Der Grund hierfür wird klar, wenn man die Geschichte der Sozialversicherung bedenkt. Von Bismarck bis Beveridge haben Reformregierungen nach und nach Umfang und Reichweite der Sozialversicherung erweitert, bis diese zum hauptsächlichen Einkommenssicherungssystem im Wohlfahrtkapitalismus wurde. Die Folgen waren landesweite Geltung, Arbeitszentriertheit, Finanzierung durch Beiträge, fallbezogene Leistung und funktionelle Trennung von anderen Formen der Besteuerung und der öffentlichen Ausgaben; und die zugrundeliegende Idee eines Steuertransfersystems wurde von „One-nation"-Konservativen genauso unterstützt wie von kollektivistischen Liberalen und Reformsozialisten. Aber die Gründe dafür waren in jedem Fall sehr unterschiedlich, und diese Unterschiede in den sozialphilosophischen Richtungen haben, wie Espen-Andersen (2), gezeigt hat, einen gewaltigen Einfluß auf das Design und die Dynamik wohlfahrtsstaatlicher Systeme ausgeübt.

 

Wie auch immer das Plädoyer, jedem Bürger einen gewissen Teil des monetarisierten Sozialproduktes in Form einer Allgemeinen Zuwendung zu übereignen, ethisch begründet wird - es bleibt zu entscheiden, wer Bürger/in ist und wieviel jede(r) bekommen sollte. Fragen der finanziellen Größenordnung sind problematisch und werden im nächsten Abschnitt behandelt. Die Definition von Bürgerschaft ist im Falle eines einzelnen, gefestigten Staates ohne Schwierigkeiten möglich. Wenn feststeht, daß jede(r) moralisch gesehen gleich ist, dann ist die einzige zu rechtfertigende Konzeption von Bürgerschaft eine an legaler Ansässigkeit, nicht aber an Abstammung oder vagen und wechselnden Vorstellungen ethnischer Identität festgemachte.

 

 

 

Grundeinkommen und Existenzminimum

 

Das Konzept des Bürgereinkommens (BE), wie ich es definiert habe, ist nicht an den Begriff der „Grundbedürfnisse" gebunden. Die BE-Sätze könnten die Grenze desjenigen Geldeinkommens übersteigen oder unterschreiten, welches als gerade angemessen angesehen wird, um einer alleinlebenden, gesunden Person im üblichen Arbeitsalter den Erwerb des zur Existenzsicherung erforderlichen Warenkorbs zu ermöglichen. Unter der gleichen Annahme ist die Existenz eines BE-Systems völlig kompatibel mit der gegenwärtig diskutierten angemessenen Definition des Existenzminimums. Weil aber die Befürworter des Bürgereinkommens zugleich darauf bestehen, daß für jeden Bürger (zumindest) das Existenzminimum gewährleistet sein sollte, werden ihre Überlegungen in der Literatur meist als „Grundeinkommen" (GE) bezeichnet: Wenn natürlich die Grundbedürfnisse eines jeden gleichermaßen befriedigt werden sollen, müssen Alter und Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit berücksichtigt werden. Daher müssen GE-Zahlungen angemessen abgestuft werden; alte Leute und Behinderte würden vermutlich mehr erhalten als andere Bürger, Kinder weniger.

 

Es läßt sich endlos darüber streiten, wo die Armutsgrenze zu ziehen ist. Eine Schlüsselmarke ist jedoch der Standard des Existenzminimums, wie er in den geltenden Sozialversicherungssätzen festgeschrieben ist. Obwohl ihr jedwede theoretische Grundlage fehlt, wird die offizielle Armutsdefinition in der empirischen Forschung weithin verwendet, sie bildet eine kritische Schwelle sowohl für die soziale Bürgerschaft als auch für die persönliche Freiheit. Wenn das Grundeinkommen sich an diesem Niveau orientiert, könnten andere Transferzahlungen abgeschafft werden, ohne daß irgend jemand, der keine andere Einkommensquelle hat, verarmt; und jede(r) würde bei der Entscheidung, was er mit seinem Leben, insbesondere dem Arbeitsleben, anfangen soll, ein Maß an Freiheit von ökonomischen Zwängen gewinnen, das bisher nur Leute mit Privatvermögen genießen konnten. Der Punkt, an dem sich diese faszinierenden Aussichten eröffnen, wird gewöhnlich als „volles" Grundeinkommen beschrieben, unter der Annahme, daß es nicht in einem einzigen Schritt, jedoch nach und nach erreicht werden kann. Während der Übergangsperiode würden noch eine oder mehrere der bedingten Transferzahlungen neben einem "teilweisen" Grundeinkommen aufrechterhalten werden.

 

Wären die Leute bereit, die Kosten eines Grundeinkommens zu tragen? Zwei Fragen müssen hier auseinandergehalten werden: 1. ob die Gesellschaft sich - in Anbetracht der verfügbaren Ressourcen - ein Grundeinkommen leisten kann, und 2. ob GE auf Dauer machbar ist unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Reaktionen der Wirtschaftssubjekte auf seine Einführung. Man beachte, daß - weil unterschiedliche Arten, ein Grundeinkommen zu finanzieren, ziemlich sicher unterschiedliche Reaktionen hervorrufen - das Problem der dauerhaften Machbarkeit nicht erörtert werden kann, ohne genau zu bestimmen, wie die erforderlichen Steuern erhoben werden sollen.

 

Offenkundig kann sich keine Gesellschaft GE leisten, wenn sie nicht regelmäßig genug produziert, um alle ihre Mitglieder auf dem gebotenen Niveau; mit den Mitteln zur Existenzsicherung zu versorgen sowie öffentlichen Konsum und Kapitaleinsatz in gesellschaftlich wünschenswerten Größenordnungen zu gewährleisten. Aber das ist eine Bedingung, die alle tragfähigen sozialen Gebilde erfüllen müssen, von Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften bis zu fortgeschrittenen Industriestaaten. Die vorliegende Frage ist nicht, ob die Ansprüche an das Sozialprodukt theoretisch miteinander vereinbar sind, sondern ob die Menschen jetzt (oder jemals) die Umwandlung des wohlfahrtstaatlichen Kapitalismus zum Grundeinkommenskapitalismus gutheißen, wenn sie die voraussichtlichen Kosten und Vorteile von GE mit den relevanten Alternativen vergleichen.

 

Wenn der Erhalt des Status quo nicht mehr möglich ist, erweist sich als eigentliche Alternative zum Grundeinkommen ein neoliberales System, indem Transferzahlungen nur gezielt erfolgen nach Bedürftigkeits- und Arbeitsfähigkeitsprüfung.

 

Für Regierungen, die darum kämpfen, die Kosten der sozialen Sicherheit zu beschränken, bedeuten Bedürftigkeitsprüfungen eine willkommene Erleichterung. Per definitionem ist diese Methode billiger als jede andere, die Mindesteinkommen garantieren soll; sie verlangt der Großzügigkeit der Steuerzahler daher weniger ab. Worauf es jedoch ankommt, ist nicht, wie viel der Staat auszahlt, sondern ob die Öffentlichkeit einen reellen Gegenwert für ihr Geld erhält. Für Neoliberale ist der einzige Zweck sozialer Transfers, materielle Not zu lindern. Jedem, der diese Sichtweise übernimmt, muß das Grundeinkommen als eine verschwenderische Extravaganz erscheinen, insbesondere wenn man die inhärenten Probleme der Bedürftigkeitsprüfung nicht sehen will. Was Grundeinkommen zusätzlich kostet, über die Grundkosten der auf Bedürftigkeitsprüfung gestützten Sozialhilfe hinaus, erscheint als Ballast, als schwere Bürde auf den Schultern der Steuerzahler. Liberal-Sozialisten sehen die Dinge anders. Nach ihrer Ansicht sind Ausgaben für ein BE-System den Kosten für die Aufrechterhaltung der Bürgerrechte und der politischen Rechte vergleichbar. Soziale Bürgerschaft ist ebenso wenig kostenlos zu haben wie Demokratie, öffentliche Gesundheit oder saubere Luft, und wer davon profitiert, muß auch für deren Gewährleistung zahlen. Deshalb gibt es für die BE-Befürworter keinen Grund, sich wegen „hoher" Besteuerung zu entschuldigen, obwohl sie in einer vom Neoliberalismus dominierten Gesellschaft ihre Probleme haben werden, Mitbürger davon zu überzeugen, daß die Sache den finanziellen Aufwand lohnt.

 

 

 

Transformationseffekte

 

Wie zu sehen war, würde ein Grundeinkommen die Optionen der Menschen auf dem Arbeitsmarkt verändern, mit potentiell weitreichenden Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Niemand weiß, wie die Menschen ihre Energien, Fähigkeiten und ihre Zeit neu einteilen würden, wenn ihr Existenzminimum ohne Bedingungen garantiert wäre. Sicherlich hinge viel von der allgemeinen Ausgestaltung der Rechtsordnung ab, die mit der persönlichen Wahl in Wechselwirkung steht. Aber die Annahme wäre wenig plausibel, daß ein Grundeinkommen keinerlei Einfluß auf die Beschäftigungslage, auf Dauer und Ausgestaltung der Arbeitszeit, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und andere strukturelle Aspekte der sozialen Reproduktion hätte.

 

Sogar Verfechter des Grundeinkommens schätzen diesen Punkt oft falsch ein. Mit unangebrachtem „Realismus" berechnen sie die mutmaßlichen Kosten eines GE-Systems als Proportion der gegenwärtigen Höhe des BIP und verlassen sich bei der Entscheidung, ob die resultierende „Steuerbelastung" sozial vertretbar ist, auf ihre Intuition. Üblicherweise kommen sie ohne ernsthafte Analyse zu dem Schluß, daß ein „volles“ Grundeinkommen nicht zu erreichen ist - sie fürchten den Aufstand der Steuerzahler gegen einen Vorschlag, der so eindeutig gegen den gesunden Menschenverstand zu verstoßen scheint. (3)

 

Natürlich können wir, bevor der "Grundeinkommen-Kapitalismus" nicht wirklich erprobt worden ist, über seine Dynamik nur spekulieren. Dasselbe galt jedoch auch für die Massendemokratie vor der Ausweitung des Wahlrechts. Aber Spekulationen müssen nicht zügellos sein, und sie sind durchaus unentbehrlich in einem Kontext, in dem es keinen Sinn macht anzunehmen, die Zukunft werde wie die Vergangenheit ausgehen. Tatsächlich können sich vernünftige Vermutungen schnell als Wunschdenken herausstellen. Aber die Gefahr, Wünsche und Perspektiven zu verwechseln, muß mit der gegenteiligen Gefahr abgewogen werden, nämlich der Annahme, daß die Dinge, so wie sie sind, auch sein müssen. In jedem Fall sind Annahmen über die Grenzen des sozial Machbaren ihrerseits ein Faktor, der den Gang der Dinge beeinflußt, unabhängig davon, wie fundiert sie sind.

 

Es ist sehr gut vorstellbar, daß ein GE-System einen Massenexodus aus dem Arbeitsmarkt auslösen und zum ökonomischen Kollaps führen könnte. Aber das ist keineswegs selbstverständlich, und man kann sich andere plausible Fälle vorstellen, in denen die Wirtschaftsleistung sogar steigt. Hätten die Beschäftigten beispielsweise ein Grundniveau an Einkommenssicherheit, würden sie weniger ängstlich ihre bestehenden Arbeitsplätze angesichts des Konkurrenzdrucks auf dem Arbeitsmarkt verteidigen, technologischem Wandel und industriellem Umbau vielleicht aufgeschlossener gegenüberstehen. Allgemeiner gesagt: Wenn das Ethos der sozialen Bürgerschaft überzeugt, wären die Menschen möglicherweise weniger geneigt, ihre eigenen Interessen eng und partikulär zu sehen und empfänglicher für die Ziele breiterer moralischer Gemeinschaften, einschließlich derer ihrer Mitbürger, der Menschheit insgesamt oder auch anderer empfindungsfähiger Arten und unserer gemeinsamen Welt.

 

 

 

Der öffentliche Bereich

 

Zwischen Bürgerrecht und Markt existiert eine Spannung. In einem Staat, der die moralische Gleichheit der Menschen respektiert, ist die Logik des Bürgerrechts egalitär, wohingegen Märkten eine Tendenz innewohnt, soziale Ungleichheiten hervorzubringen oder zu verfestigen. Und während einige Ungleichheiten der Behandlung oder der Anerkennung aus instrumentellen Gründen als die besten Mittel gerechtfertigt werden können, Ziele anzustreben, denen jeder zustimmt, sind andere in gegliederten Hierarchien verwurzelt, die Muster und Art des gesellschaftlichen Lebens insgesamt negativ beeinflussen.

 

Sogar in einer idealen Marktwirtschaft wären "goods and bads", Güter und Nachteile (oder die Mittel sie zu erreichen bzw. zu vermeiden) ungleich verteilt, und zwar nach Erbe, Alter, Gesundheit, beruflichem Können, Neigungen, Leistung und Glück. Sozialpolitik hätte deshalb zum Ausgleich für natürliche oder erworbene individuelle Mängel und Mißgeschicke immer noch eine Rolle. Aber der Eintritt dieser Bedingungen wäre mehr oder weniger zufällig, und es gäbe wenig oder gar keine Notwendigkeit für irgendeine organisierte öffentliche Macht, strukturelle Privilegien, institutionelle Vorurteile und partikulare Macht auszugleichen. Aber alle derzeitigen Marktwirtschaften sind mit gewissen Unterschieden durch tiefreichende und lang bestsehende Trennlinien nach Geschlecht, Schicht, Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit gekennzeichnet. Zweifellos gehen einige dieser Trennlinien dem Aufkommen des Kapitalismus und der Ausbreitung der Marktbeziehungen voraus - im Falle des Geschlechtes Tausende von Jahren. Das hält sie jedoch nicht davon ab, weiterhin die Verteilung von Einkommen, Arbeit und Macht zu bestimmen. Und typischerweise verlaufen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, die wichtigsten gesellschaftlichen Verteilungskonflikte entlang dieser Trennlinien.

 

Wenn Bürgerschaft, wie in allen Staaten vor der Erreichung des allgemeinen Wahlrechts, selber ein priviligierter Status ist, wird sie einfach die zur Ungleichheit führenden Effekte anderer sozialer Spaltungen stärken. Wo aber die Bürgerschaft Rechte und Pflichten mit sich bringt, die gemeinsam von allen geteilt werden, kann. sie im Prinzip die „spontan" entstandene Schieflage der Sozialstruktur korrigieren. Wenn dieses Potential ausgeschöpft werden soll, muß Bürgerschaft jedoch zu einer aktiven Kraft in öffentlichen Angelegenheiten werden, nicht nur die Quelle eines passiven Empfängerrechts auf Mittel zur Lebenserhaltung.

 

Nun ist, wie Adam Smith herausgefunden hat, das Verfolgen des Eigeninteresses - oder, um es präziser zu sagen, des kommerziellen Eigeninteresses - eine machtvolle Kraft für materiellen Fortschritt. Aber für das Streben nach sozialer Gerechtigkeit ist es einmalig schlecht geeignet. In einer durch und durch kommerziellen Gesellschaft würden die Menschen niemals der Pflicht oder dem Zwang begegnen, sich um irgend etwas anderes als ihre jeweiligen Partikularinteressen zu kümmern, und der Gesellschaft als ganzer würden alle öffentlichen Mittel fehlen, sich mit den immerwährenden Konflikten darüber zu beschäftigen, wer was bekommt, wer was tut und wer was entscheidet. Diese grundlegenden Verteilungsfragen müssen in allen Gesellschaften gelöst werden, und sie sind eine Hauptquelle für soziale Konflikte. Die Marktkräfte verändern die Form des Verteilungskonfliktes; sie schaffen ihn aber kaum ab.

 

In der Tat hat die Verbreitung der kapitalistischen Warenproduktion den Partikularstreit intensiviert, indem sie den sozialen Ungleichheiten, die von früheren, organischen Gesellschaften fraglos akzeptiert wurden, ihre Legitimation entzogen hat. Für sich allein gesehen war das eine Entwicklung hin zur Freiheit. Vorkapitalistische Ideen über soziale Gerechtigkeit waren partikularistisch, nicht universell; kommunitaristisch, nicht liberal; hierarchisch, nicht egalitär, und traditionell, nicht rational. Aber nachdem sie die Verbindungen zwischen Gemeinwesen und Tradition aufgelöst haben, wehren sich die Marktkräfte gegen jedes Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Das Resultat ist Verteilungsanarchie.

 

 

 

Fazit

 

Ich plädiere für eine Integration von Steuern und Transfers und die Aufspaltung der Sozialpolitik in zwei getrennte Sparten: eine, die sich mit sozialen Transfers beschäftigt, die andere mit sozialen Diensten. Das würde die Etablierung oder die Bewegung in Richtung eines „vollen" Grundeinkommens bedeuten; wobei alle anderen Sozialtransfers auslaufen, direkte und indirekte; während das notwendige Staatseinkommen ausschließlich durch eine Extrasteuer auf alle persönlichen Einkünfte und das Vermögenseinkommen oberhalb einer moderaten Schwelle aufgebracht wird.

 

Ein System dieses Zuschnitts hat fünf Hauptvorteile: Erstens ist es einfach und daher billig zu handhaben. Im Bereich der sozialen Sicherheit würde Personal überflüssig, aber der freigesetzte Teil könnte jederzeit der Finanzverwaltung zugewiesen und umgeschult werden, um bei der Bekämpfung der Steuerflucht zu helfen. Zweitens ist das System transparent. Wenn die Bürger ihre Einkommensteuer zahlen, wissen sie genau, wofür sie zahlen, wieviel eine einzelne Person mit keiner anderen Einkommensquelle zum Leben hat und wo sie selber im Verhältnis zu dieser Grundlinie stehen. Drittens erfordern Verteilungsfragen einen permanenten Platz auf der politischen Agenda, beginnend mit der Prävention von Armut (aber kaum mit dieser Aufgabe endend). Wenn jeder ein direktes Interesse an Steuertransferentscheidungen hat, werden die Leute ermutigt, über diese Fragen weniger partikularistisch und verantwortungsbewußter nachzudenken, obwohl es sicher dumm wäre, Wunder an Altruismus und Bürgersinn zu erwarten. Viertens unterliegt das System einer eingebauten Steuerdisziplin: Die Leistungssätze werden nur in dem Maße steigen, in dem das Steuereinkommen wächst. Daher müßten Angleichungen im System von Sozialtransfers und Privateinkommen im voraus abgeschätzt, und im nachhinein müßten ihre Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft geprüft werden. Zumindest sollten diese Aufgaben an die allgemeine Ausrichtung der makroökonomischen Politik angepaßt werden. Aber - und dies ist der fünfte Punkt - die Anforderungen an das Wirtschaftsmanagement würden Gelegenheiten zur Ausweitung und Vertiefung der ökonomischen Demokratie schaffen.

 

Das Grundeinkommen dürfte ein neues Gleichgewicht der Wahl zwischen bezahlter Arbeit und anderen Aktivitäten schaffen. Die ökonomische Schlüsselfrage ist daher, wie der Arbeitsmarkt reagiert. Anders gesagt: Wie werden die Menschen angesichts ihrer neugefundenen Freiheit entscheiden - ob sie am Arbeitsmarkt teilnehmen sollen, in welcher Eigenschaft, für wie lange, zu welchen Zeiten und zu welchen Bedingungen? Das entsprechende institutionelle Problem besteht darin, einen regulatorischen Rahmen zu entwerfen, welcher die soziale Bürgerschaft sichert, ohne die wirtschaftliche Prosperität zu gefährden.

 

Es gibt wenig Hoffnung, dieses Ziel zu erreichen, wenn die Regierung versucht, die Wirtschaft fernzusteuern, indem sie lediglich die Parameter des Steuertransfersystems festsetzt und es den Privatpersonen in der Bürgergesellschaft selber überlässt, wie sie damit zurechtkommen. Eine Regierung, die Abstand zu den anderen sozialen Akteuren hält, kann bestenfalls hoffen, deren Verhalten zu beeinflussen, indem sie Strafen androht und Belohnungen verspricht. Sie hat keine direkten Mittel, sich ihre Intelligenz und ihren Einfluß auf den politischen Entscheidungsprozess nutzbar zu machen oder sie zu überzeugen, Partikularinteressen im Namen der sozialen Verantwortung beiseite zu stellen.

 

In der Praxis gibt es natürlich keine scharfe Trennung zwischen Politikmachern und Politikempfängern. Regierungen versuchen normalerweise die Reaktionen derjenigen zu antizipieren, die von ihren Entscheidungen betroffen sind, und machtvolle Interessen zu berücksichtigen; und organisierte Partikularinteressen suchen normalerweise Zugang zu den Korridoren der Macht. Aber pragmatisches politisches „Aushandeln" ist nicht das gleiche wie eine prinzipielle Verpflichtung zu sozialem Dialog und ökonomischer Demokratie. In einer „Grundeinkommen-Demokratie" würde die Regierung bewußt und regelmäßig versuchen, die öffentliche Diskussion über Steuertransferpolitik zu fördern, indem sie alle Partikularinteressen immer wieder einlädt, politische Optionen zu benennen, ihre Implikationen zu untersuchen und sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, die dafür sprechen, die eine oder die andere Option zu bevorzugen.

 

Partikulare Ansprüche und Gegenansprüche würden nicht verschwinden. Dies wäre auch nicht wünschenswert. Aber Teilinteressengruppen wären verpflichtet, ihre Forderungen zu artikulieren und zu rechtfertigen, und zwar auf eine Art, die Rücksicht nimmt auf die gemeinsame Identität der Menschen als Bürger. Auf der anderen Seite würde der politische Entscheidungsprozeß eine schärfere Fokussierung verlangen, und die Bürger wären besser imstande, ernsthafte Entscheidungen über ihre kollektive langfristige Zukunft zu treffen, die den jeweiligen Forderungen der sozialen Gerechtigkeit, des ökonomischen Wachstums und der ökologischen Nachhaltigkeit angemessene Beachtung schenken.

 

Wie die soziale Entwicklung in einer Grundeinkommen-Demokratie aussehen wird, kann im voraus nur schwer gesagt werden. Der Punkt ist, daß die Philosophie des Liberal-Sozialismus und die Institution des Bürgereinkommens das Potential für einen langen evolutionären Prozeß des sozialen Lernens und des kulturellen Wachstums bieten.

 

 

 

 

 

(1) Die ethischen Argumente, die für ein Bürgereinkommen sprechen, werden ausführlich erörtert bei P. Van Parijs (Hrsg.), Arguing for Basic Income, London 1992.

 

(2) G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

 

(3) H. Parker, Instead of the Dole, London 1989, bietet eine erste Auseinandersetzung mit den Problemen des Übergangs, aber obwohl sie genaue Kostenberechnungen für ihre verschiedenen Vorschläge anstellt, unternimmt sie keinen systematischen Versuch, die Interdependenz zwischen Sozialpolitik und wirtschaftlichem Erfolg zu analysieren.